Ampel-Koalition hofft auf Durchbruch: Kohleausstieg bis 2030 geplant - hartes Ringen um Ministerien
Am Ende geht es auch um Posten; die Grünen können punkten. Aber mitten in den Verhandlungen ruft die Kanzlerin wegen der Corona-Lage die Ampel-Chefs zu sich.
In seiner einstigen Heimat haben sie schon eine Vermisstenanzeige geschaltet. „Vermisst!“ titelt die „Hamburger Post“ zu einem Bild von Olaf Scholz und fragt: „Wer hat Olaf Scholz gesehen? Der Bald Kanzler- und Jetzt-schon Verantwortliche für das Wohl der Bevölkerung soll uns seit Wochen Orientierung bieten und Lösungen aufzeigen. Wo zum Teufel steckst Du?“
Nun, das Rätsel ist nicht schwer zu lösen, offenbart aber das ganze Dilemma des 63-Jährigen. Er will die Ampel-Koalitionsverhandlungen möglichst schnell zu Ende führen, denn die geschäftsführende Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat deutlich gemacht, dass sie eine zunehmend unbeherrschbare Corona-Lage erwartet.
Scholz gilt als einer der besten politischen Verhandler des Landes, doch eine zunächst für Dienstag avisierte Einigung und Vorstellung des Koalitionsvertrages von SPD, Grünen und FDP musste aufgeschoben werden. Die könnte nun in den nächsten Tagen zusammenfallen mit einer sehr traurigen Nachricht: Mittwoch oder Donnerstag wird in Deutschland die Schwelle von 100 000 Corona-Toten überschritten - und die Ampel-Parteien müssen sich fragen lassen, ob ihr Paket ausreicht. Merkel hat da mehr als deutliche Zweifel.
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Verhandlungsunterbrechung, um zu Merkel zu fahren
Jedenfalls ist der vermisste Scholz am Dienstag im Willy-Brandt-Haus, um mit den Spitzen von SPD, Grünen und FDP die letzten Streitpunkte zu klären. Aber zwischendurch unterbrechen die Chefverhandler ihre Gespräche, um am Nachmittag zu Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zu fahren, wie der Tagesspiegel erfuhr.
Es wurde erwartet, dass es dabei um die zugespitzte Corona-Lage gehen sollte. „Wir haben eine hoch dramatische Situation, was jetzt gilt, ist nicht ausreichend“, hatte Merkel am Vortag im CDU-Vorstand gesagt. Merkel hatte das Auslaufen der epidemischen Lage von nationaler Tragweite mit Sonderdurchgriffsrechten und der Option auf Schließungen von Teilen des öffentlichen Lebens durch die Ampel-Parteien kritisiert. Auch die Details der geplanten Impfpflicht etwa für Pfleger und Ärzte sind noch unklar. "Wir haben eine Lage, die alles übertreffen wird, was wir bisher hatten“, hatte die geschäftsführende Kanzlerin gemahnt – sie ist aber wegen der neuen Mehrheiten im Bundestag auf Unterstützung der drei Parteien angewiesen, die die künftige Regierung stellen wollen. Ergebnisse des rund einstündigen Treffens wurden zunächst nicht bekannt.
Kohleausstieg wird deutlich vorgezogen - und auch Gasausstieg angepeilt
Danach waren ab etwa 19 Uhr weitere, womöglich finale Verhandlungen bis tief in die Nacht im Willy-Brandt-Haus geplant. Ein besonders großer Streitpunkt der Koalitionsverhandlungen scheint inzwischen geklärt: Die geplante Ampel-Koalition hat sich offensichtlich wie im Sondierungspapier angekündigt auf einen Kohle-Ausstieg bis 2030 verständigt. Das Datum werde im Koalitionsvertrag stehen, sagten mehrere an den Gesprächen Beteiligte der Nachrichtenagentur Reuters, dem Tagesspiegel wurde die Information bestätigt. Aber Voraussetzung sei, dass die Versorgungssicherheit gewährleistet sein und soziale Härten für Beschäftigte abgefedert werden müssten.
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Das Datum 2030 war eine Kernforderung der Grünen, im Sondierungspapier war noch von "idealerweise" 2030 die Rede. Bisher ist die Abschaltung des letzten Kohlemeilers bis spätestens 2038 geplant. Ferner hieß es, auf Erdgas für die Stromerzeugung solle spätestens ab 2040 verzichtet werden. In Neubauten soll dieser Brennstoff schon in den nächsten Jahren nicht mehr eingesetzt werden. Erdgas-Heizungen müssten zudem bis Mitte der 2030er Jahren ausgetauscht werden.
Es gehört zum Charakter solcher Verhandlungen, dass die größten Brocken zum Schluss kommen. Die Grünen pochen auf ein Veto-Recht bei jedem Gesetz, wenn es nicht den Klimaschutzanforderungen genügt, das kann aber jedes Mal zu zähen Auseinandersetzungen führen.
Und dann geht es darum, wie bei Einhaltung der Schuldenbremse künftig genug investiert werden kann in den Umbau der Industrie, Infrastruktur und Digitalisierung. Zudem ist die Finanzierung des FDP-Projekts einer Aktien-Rente ein Streitpunkt gewesen, hieß es. Und nach den Inhalten geht es am Ende wie gewohnt vor allem auch um Posten und Personen.
Das unbeliebte Gesundheitsministerium
Offen war bis zuletzt wer das wegen der Corona-Pandemie nicht besonders beliebte Gesundheitsministerium übernehmen soll, Jens Spahn erlebt gerade, wie schnell man dort zum Sündenbock der Nation wird. Bekommt es die FDP, kann die SPD das attraktivere Forschungs- und Digitalministerium übernehmen, bekommen die Grünen das Gesundheitsressort, geht das Familienministerium an SPD oder FDP. Auch wenn er selbst schon Ambitionen auf das Ressort angemeldet hatte, sahen führende SPD-Kreise den bekannten SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach bisher als nicht geeignet an für das schwierige Amt des Gesundheitsministers.
Erstmals könnte das Verteidigungsministerium an die FDP gehen – aber wohl nicht wie in zirkulierenden Kabinettslisten kolportiert an die Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Stattdessen wird zum Beispiel Generalsekretär Volker Wissing gehandelt. Aber wie in den Wochen zuvor dringt fast nichts heraus, auch die finale Fassung des Koalitionsvertrags wird in einem sehr kleinen Kreis gehalten.
Die Grünen könnten mehr rausholen als gedacht, das ist auch der Preis dafür, wenn FDP-Chef Christian Lindner wie gewünscht das Finanzressort bekommt.
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Denn mit dem neuen Ministerium für Wirtschaft, Energie, Klimaschutz und Transformation (Favorit: Robert Habeck), Umwelt, Landwirtschaft und Ernährung (Favoritin: Steffi Lemke) und Verkehr (Favoriten: Toni Hofreiter und Cem Özdemir) würden sie die Schlüsselressorts für das Großthema Klimaschutz bekommen, dazu das Auswärtige Amt (Favoritin: Annalena Baerbock).
Zudem werden offensichtlich gleich entscheidende weitere Personalien besprochen, wie der Tagesspiegel aus Verhandlungskreisen erfuhr.
Wer soll neuer Bundesbank-Chef werden?
So etwa die Nachfolge des ausscheidenden Bundesbank-Chefs Jens Weidmann, hier geht es letztlich darum, welcher geldpolitischer Kurs eingeschlagen werden soll. Erst am Dienstag äußerte Weidmann wieder seine Sorge über die Zinspolitik und Anleihenkäufe der Europäischen Zentralbank (EZB), er fürchtete, dass die Inflationssorgen sträflich unterschätzt werden.
Es könne sehr wohl sein, dass die Inflation auf mittlere Sicht nicht wie vorhergesagt unter den EZB-Zielwert von zwei Prozent sinke. „Wir sollten das Risiko einer zu hohen Inflation nicht außer Acht lassen und stattdessen wachsam bleiben", betonte der Bundesbankchef, der Ende 2021 vorzeitig abtritt. Aber Nachfolgekandidaten sickerten zunächst nicht durch.
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Und weiteres Thema, wie dem Tagesspiegel bestätigt wurde. Auch über die künftige Besetzung des Vorstands bei der Deutschen Bahn wird gesprochen, bisher wird sie von Richard Lutz geführt. Vor allem für den Infrastruktur-Vorstand Ronald Pofalla, unter Merkel früher Kanzleramtschef, könnte die Zeit ablaufen. Erklärtes Ziel ist es, den Bahnverkehr zu stärken, es geht aber auch um die Frage einer stärkeren Trennung von Netz und Betrieb. Bis hin zur künftigen Führung der Bundesnetzagentur werde intern diskutiert, heißt es.
Auch wenn es am Ende nochmal hakte, dramatische Szenen und ein Platzen wie bei Jamaika 2017 erwartete bis zuletzt niemand, aber am Ende mussten dann vor allem die Parteichefs und Scholz ran - in der Hoffnung, dass Scholz und Co. am Mittwoch auch öffentlich wieder auftauchen und den Vertrag vorstellen können. „Das bekommen die hin“, sagte einer aus der Verhandlungsgruppe.