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Hat ihr Päckchen zu tragen: Andrea Nahles, Partei- und Fraktionschefin der SPD, telefonierte am Sonntag mit der neuen CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer.
© Kay Nietfeld/dpa

Andrea Nahles: SPD-Chefin in Not

Die CDU hat eine neue Chefin, die SPD-Chefin hat alte Probleme. Die Umfragewerte sind weiter mies. Und diese Woche stehen Konflikte mit der CDU an.

Andrea Nahles schwelgte in Erinnerungen und geriet ins Schwärmen. „Ein Glücksmoment“ sei es für sie gewesen, als 1995 die Grenz-Kontrollen zwischen vielen europäischen Ländern abgeschafft wurden und sie völlig ungehindert in die Nachbarländer Frankreich und Luxemburg reisen konnte, rief sie mit heiserer Stimme am Sonntag den Delegierten des SPD-Nominierungsparteitags für die Europaliste zur Wahl im Mai zu: "Es hat sich angefühlt wie Freiheit."

Wie immer es sich für die 48-jährige Politikerin gegenwärtig anfühlt, Vorsitzende einer zunehmend verunsicherten und verzweifelten Partei zu sein – Freiheit und Glück dürften wohl nicht die ersten Begriffe sein, die ihr in den Sinn kommen. Denn vor allem bei Nahles und Vizekanzler Olaf Scholz laden viele Sozialdemokraten ihren Unmut darüber ab, dass ihre stolze Partei kein Mittel zu finden scheint, den Abwärtstrend umzukehren.

Noch sind harte, teils vernichtende Urteile über die beiden Politiker auch von sehr erfahrenen und gut vernetzten SPD- Funktionsträgern nur hinter vorgehaltener Hand zu hören. Doch sie verdichten sich zu einer bösen Stimmung, die sich irgendwann Bahn brechen könnte. Die Liste der Vorwürfe von Abgeordneten gegen sie ist lang. Sie schotte sich ab und umgebe sich nur mit den Vertrauten aus Juso-Zeiten, wolle gemeinsam mit Scholz die Kontrolle über jedes kleine Thema ausüben, statt sich um die großen Linien zu kümmern, und habe sich von der Basis entfernt. „Seit der Sache mit Maaßen ist es aus“, urteilt ein Parlamentarier kategorisch. Es gebe nun einmal Situationen, in denen man sich als Spitzenpolitiker nicht einen Fehler leisten dürfe. Das Entsetzen über das Nachgeben der Parteichefin an der Basis sei so groß gewesen, dass das Vertrauensverhältnis zerstört sei.

Auch dass es Nahles mit eher befremdlichen Emotionsausbrüchen auf offener Bühne während des Debattencamps ihrer Partei in die Satiresendung „heute-show“ schaffte, wurde in ihrer Partei von manchen als peinlich empfunden. Der Fürther Oberbürgermeister Thomas Jung sprach für viele andere Sozialdemokraten, als er dem Tagesspiegel sagte: "Die Bevölkerung hat kein positives Bild von ihr, ob zu Recht oder zu Unrecht. Eine Galionsfigur oder herausragende Sympathieträgerin ist sie jedenfalls nicht."

Der Neuanfang der CDU in Hamburg hat die Aufgabe der Partei- und Fraktionschefin nicht leichter gemacht, zugleich gute Ergebnisse der Regierungsarbeit abzuliefern und der Partei in dem viel beschworenen Prozess der "Erneuerung" wieder Stolz und Selbstbewusstsein einzuimpfen. Zwar erhoffen sich die Verteidiger der großen Koalition in der SPD von CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK) Konsensbereitschaft und Berechenbarkeit, die nach Monaten heftigsten Streits wieder Stabilität in die gemeinsame Regierung bringen soll. Und die neue Parteichefin und die weiter amtierende Kanzlerin können mit Konflikten zwischen CDU und Kanzleramt angesichts ihres engen Verhältnisses wohl umgehen. Doch angesichts des gelungenen CDU-Parteitags von Hamburg wirkt die Misere der SPD noch größer. Die Christdemokraten haben der Republik mit der offenen Auseinandersetzung dreier prominenter Kandidaten gezeigt, wie demokratische "Erneuerung" auf großer Bühne funktioniert.

Nahles, wiewohl erst acht Monate im Amt, wirkt im Vergleich mit AKK plötzlich wie die Vertreterin eines Ancien Régime. Die Voraussage wichtiger SPD-Vertreter, wonach die in Hamburg aufgebrochenen Spannungen den Anhängern von AKK und jenen von Friedrich Merz der CDU noch schwer zu schaffen machen werden, wirkt eher wie eine pflichtschuldige Kritik als eine belastbare Hoffnung. Auch dürfte es für die SPD nicht leicht werden, gegen die neue CDU-Vorsitzende, die aus dem Sozialflügel ihrer Partei kommt, eine klare Abgrenzung in der Sozialpolitik zu markieren. Mit Friedrich Merz, dem Wirtschaftsanwalt und früheren Blackrock-Aufsichtsrat, wäre das deutlich einfacher geworden.

Dass Kramp-Karrenbauer ihre konservativ-gesellschaftspolitischen Überzeugungen betont, könnte die erste Auseinandersetzungen mit ihr als neue Parteichefin innerhalb der großen Koalition provozieren. Die SPD hat allerdings auch genau registriert, dass die neue CDU- Chefin für Januar ein Gespräch zur Flüchtlings- und Sicherheitspolitik angekündigt hat, an dem auch Kritiker des bisherigen Kurses von Kanzlerin Angela Merkel teilnehmen sollen.

Vizeparteichef Ralf Stegner markiert schon mal die Grenzen

Die CDU-Politikerin hat erklärt, dass sie wegen ihrer christlichen Überzeugung eine Änderung des Werbe- und Informationsverbots für Schwangerschaftsabbrüche kategorisch ablehnt. Die Sozialdemokraten aber verlangen eine Reform, die Rechtssicherheit für Ärzte und freie Information für Frauen garantiert. Der Erwartungsdruck ist hoch, Nahles soll liefern. "Für die SPD ist es ausgeschlossen, dass der Paragraph 219a so bleibt, wie er ist", sagt Parteivize Ralf Stegner: "Es muss eine Änderung und ernsthafte Bemühungen der Parteien um eine Einigung geben." Die SPD-Fraktionschefin hatte im März mit Rücksicht auf die Union einen Antrag zur Änderung des Paragraphen zurückgezogen und seither in der Bundesregierung über einen Kompromiss verhandelt – bislang ohne Ergebnis.

Auch jüngere SPD-Abgeordnete verlangen, dass sich die Union bewegt, auch wenn deren Vorsitzende anders als Angela Merkel in dieser Frage konservative Akzente vertritt. "Ich erwarte jetzt von Frau Merkel, dass sie ihre Zusage uns gegenüber einhält und wir ein gutes Ergebnis bekommen", sagt Falko Mohrs, der gemeinsam mit elf anderen Parlamentariern in seiner Fraktion kürzlich eine Freigabe der Abstimmung für den Fall beantragt hatte, dass sich die SPD- und Unionsministerien bis Herbstende nicht auf eine Kompromisslösung einigen können. Dahinter steht die Drohung, dass die SPD mit den Stimmen von FDP, Linken und Grünen die Union im Bundestag überstimmen könnte.

Auch beim Thema Migration markiert Stegner vorsorglich die Schmerzgrenze der SPD. "Abweichung vom Koalitionsvertrag etwa beim Bleiberecht für Flüchtlinge in Ausbildung und Beruf kommen nicht infrage", sagt er und fügte hinzu: "Es darf kein zweites Sommertheater geben." Im Sommer hatte der wochenlange Streit zwischen CSU und CDU um einen nationalen Alleingang bei der Zurückweisung von Flüchtlingen an der deutschen Grenze fast alle anderen Bemühungen der großen Koalition überlagert und dem Zutrauen in beide Volksparteien geschadet. Die SPD erklärte damals, eine ähnliche Eskalation werde sie nicht mehr dulden. Allerdings sind in den Wochen seither die Umfrageergebnisse noch weiter abgesackt. Bei Werten um die 15 Prozent würde die Drohung mit dem Koalitionsbruch bedeuten, dass ein Viertel der SPD-Abgeordneten bei einer Neuwahl aus dem Bundestag fliegen würde.

Vor dem Nominierungsparteitag für die Europaliste hatte Nahles Teile ihrer Partei empört, weil der Vorstand sich über das Votum von Landesverbänden hinwegsetzte und jüngere Frauen für vordere Plätze vorschlug. Von den Landesverbänden empfohlene Kandidaten landeten deshalb auf aussichtslosen Plätzen. Die Delegierten wählten am Sonntag nicht nur Justizministerin Katarina Barley und den Chef der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament, Udo Bullmann, zu ihren Spitzenkandidaten, sondern bestätigten auch die Liste des Vorstands. Kandidaten, die gesetzten Bewerbern aussichtsreiche Plätze streitig machen wollten, konnten sich nicht durchsetzen. Ihr sei klar geworden, dass ihr Eingriff für "Diskussionsstoff" sorgen würde, sagte Nahles am Rande des Treffens. Er sei aber "unerlässlich" gewesen, wenn die Partei "bunter und weiblicher" werden solle.

Am Sonntagabend wollte Nahles zum ersten Mal mit der neuen CDU-Chefin telefonieren. "Wir werden jetzt sehen, wie sich die Union nach dem sehr knappen Ergebnis positioniert", erklärte sie. Auch zum absehbaren Konflikt t um den Paragraphen 219a nahm sie Stellung. Die Koalition habe in den vergangenen Wochen Übung im Umgang mit schwierigen Themen und immer wieder gute Lösungen gefunden, sagte sie: "Mit diesem Optimismus starte ich in die neue Woche."

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