Flüchtlingskrise: Sozialdemokraten im EU-Parlament warnen vor Grenzschließungen
Der Rückstau von Flüchtlingen an der Grenze zwischen Österreich und Deutschland schafft Probleme. Die österreichische Innenministerin rechnet mit Konflikten wie in Mazedonien.
Der Fraktionschef der Sozialdemokraten im EU-Parlament, Gianni Pittella, hat in der Flüchtlingskrise vor einer Schließung der Grenzen in Deutschland und Österreich gewarnt. „Dies ist genau das Szenario, das wir nicht akzeptieren können“, sagte Pittella dem Tagesspiegel. Zuvor hatte die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner erklärt, dass auch Österreich die Grenzen dicht machen müsse, falls Deutschland dies tue. Dabei müsse möglicherweise auch Gewalt angewendet werden, sagte die konservative ÖVP-Politikerin. Der Italiener Pittella erklärte dazu, dass eine derartige Entwicklung durch den Aufbau eines dauerhaften Mechanismus zur Verteilung der Flüchtlinge unter den EU-Staaten verhindert werden müsse. Jeden Tag kommen immer noch gut 5000 Flüchtlinge über die Grenze nach Österreich. Gleichzeitig verzögert sich für viele Flüchtlinge in Österreich zunehmend die Weiterreise nach Deutschland. Wenn Deutschland deren Aufnahme erschwere, gebe es „Bilder wie in Mazedonien“, sagte Mikl-Leitner mit Verweis auf mazedonische Polizisten, die mit Tränengas Flüchtlinge an der Grenze zu Griechenland zurückhalten wollten. Mikl-Leitner sagte dies vor der wöchentlichen Regierungssitzung. Während der Sitzung waren in der Frage des Umgangs mit den Flüchtlingen die Differenzen in der Wiener Koalition zwischen der sozialdemokratischen SPÖ und der ÖVP klarer denn je zutage getreten.
Tägliche Telefonate mit Merkel
In Wien hatte es tagelang Gerüchte gegeben, dass die fast täglichen Telefonate Faymanns mit Merkel vor allem dem Zweck dienten, die restriktiveren deutschen Grenzkontrollen abzumildern. Nach dem Ministerrat von der Presse gefragt, ob er dementiere, dass Deutschland die Flüchtlings-Sonderzüge nur mehr für einige Tage wie bisher übernehmen wolle, wich Kanzler Werner Faymann (SPÖ) aus: Kanzlerin Merkel habe ihm "nicht erklärt, dass sie das Asylrecht außer Kraft setzt". Es gebe aber "nur die einzige Vereinbarung, und das ist das Menschenrecht auf Asyl". Faymann gab zu, dass die verstärkten deutschen Grenzkontrollen zum Rückstau der Flüchtlinge in Österreich und "jeden Tag zu größeren Problemen" führten.
Faymann verwahrte sich auch "gegen den Eindruck in Deutschland, Österreich mache es wie Ungarn und schicke die Flüchtlinge einfach weiter": Von den 167.000, die im September nach Österreich kamen, seien etwa zehn Prozent geblieben. Und es seien schon vorher 53.000 Asylwerber in der Grundversorgung gewesen.
Das Wahlergebnis in Oberösterreich war ein Warnschuss
Vizekanzler und ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner schlug härtere Töne an: Man werde "die Vorgangsweise akzentuieren, wenn Sie so wollen, verschärfen." Eine Neuausrichtung der Asylpolitik sei auch eine der Lehren aus der Landtagswahl in Oberösterreich am vergangenen Sonntag, wo ÖVP und SPÖ massiv Stimmen an die Immigrationsfeindliche FPÖ verloren: "Ich habe keine Lust, auch noch in biblischer Gelassenheit die zweite Wange hinzuhalten", so der Vizekanzler. Als ersten Teil der Neuausrichtung nannte Mitterlehner die Schaffung von "Hotspots" an den EU-Außengrenzen bis November. Dem pflichtete Faymann bei. Wohl auch, weil dafür die EU zuständig wäre.
Derzeit geht der Großteil des Flüchtlingsstroms der Balkanroute über Salzburg und Oberösterreich nach Deutschland. Weil wegen des Oktoberfests bis 4.Oktober direkte Züge von Salzburg nach München ausgesetzt sind, werden täglich rund 800 Flüchtlinge mit Sonderzügen Richtung Passau gebracht. Der große Rest der Migranten passiert die Grenze entweder an Straßenübergängen oder über die "grüne Grenze". So marschieren bis zu 2500 täglich vom Salzburger Hauptbahnhof die sechs bis acht Kilometer nach Freilassing, den Hauptübergang vom Bundesland Salzburg. Der Rest geht in Oberösterreich, vor allem bei Passau über die Grenze, bis wohin sie mit fahrplanmäßigen Zügen und Bussen gebracht werden. Vor allem den Sonder-Bustransport hatte Berlin zuletzt kritisiert, weil der dem unkontrollierten Grenzübergang der Flüchtlinge Vorschub geleistet habe. Er wurde daraufhin weitgehend eingestellt. Die vielen Notquartiere in Österreich werden dabei von den Flüchtlingen, die nach nach Deutschland wollen, höchstens eine Nacht genutzt oder gar nicht. Der Sprecher der Stadt Salzburg, Johannes Greifeneder: "So kurz vor dem Ziel kann man sie nicht zurückhalten." Im Osten und Süden Österreichs werden daher die von Durchgangsmigranten nicht ausgelasteten Notquartiere inzwischen auch mit in Österreich bleibenden Asylantragstellern ausgelastet. Auch deren Zahl ist ständig im Steigen, täglich kommen seit einem Monat 500 dazu. Die Unterkünfte für Asylbewerber sind mittlerweile mit ihren "Kapazitäten am Ende", wie das Innenministerium bestätigte.
Die Versorgung der Flüchtlinge kostet 25 Mal mehr als gedacht
Zu den Kosten der Versorgung der Flüchtlinge kursiert derweil in Österreich eine neue Zahl: Das ORF-Radio berichtete von einem Geheimpapier der Bundesregierung für ihre Asylklausur. Demnach seien bis 2019 insgesamt 12,3 Milliarden Euro für die Versorgung und Integration der Flüchtlinge inklusive ihres erwarteten Familiennachzugs nötig. Das wäre etwa das 25-fache der bisher kalkulierten Kosten. Das Finanzministerium dementierte unter Berufung „auf die Regierungsspitze“ umgehend: Das Papier sei „unbekannt und nicht nachvollziehbar“. Auf EU-Ebene geht unterdessen die Diskussion über die Flüchtlingspolitik von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban weiter. Der Sozialdemokrat Pittella forderte die konservative Parteienfamilie EVP auf, „eine klare Haltung“ zu ihrem Mitglied Orban zu finden, dessen Land bei einem EU-Innenministertreffen gegen die Verteilung von 120 000 Flüchtlingen in der EU gestimmt hatte.