NRW-Integrationsstaatssekretärin Güler: "Da wurde mir klar: Ich bin deutsch"
Serap Güler, Integrationsstaatssekretärin in NRW, über Probleme junger Deutschtürken und ihren eigenen Weg zur deutschen Staatsbürgerschaft. Ein Interview.
Frau Güler, Sie sind eine der erfolgreichsten CDU-Politikerinnen mit Migrationshintergrund. Wie oft werden Sie gefragt, was Sie in der CDU machen?
Sehr oft. Eine Muslimin in der CDU – das ist für viele aus der türkischen Community, aber auch in der Mehrheitsbevölkerung noch keine Selbstverständlichkeit. Sie sehen die Union als Christenclub und haben wohl immer noch die alte CDU im Hinterkopf, die zwar nicht alleine die Ansicht vertrat, Deutschland sei kein Einwanderungsland, aber doch eben sehr laut. Was seit 2005 alles von der CDU an integrationspolitischen Akzenten gesetzt worden ist, scheint an vielen Menschen vorbeigegangen zu sein.
Die CDU hat sich auf dem Bundesparteitag gegen die doppelte Staatsbürgerschaft entschieden. Hadern Sie in solchen Momenten mit Ihrer Partei?
Das kommt vor, ja. Aber diese Erfahrung macht jedes Parteimitglied, egal welcher Partei. Bei mir hat das aber nichts mit meiner Migrationsgeschichte zu tun. Und zu Ihrem Beispiel: Die Entscheidung, die auf dem Bundesparteitag im Dezember gefallen ist, war sehr, sehr knapp. 51 zu 49 Prozent für die Abschaffung des Doppelpasses. Allein das zeigt, dass sich in der CDU etwas verändert hat. Wenn man diesen Antrag 2003 gestellt hätte, hatten wahrscheinlich 70, 80 Prozent gegen den Doppelpass gestimmt.
Sie sagen, die deutsche Staatsbürgerschaft sollte es nicht "zum Nulltarif" geben. Was meinen Sie damit?
Die deutsche Staatsbürgerschaft soll keine Beliebigkeitsstaatsbürgerschaft sein. Sie ist mit vielen Privilegien verbunden: Sie können zum Beispiel in die allermeisten Länder visafrei reisen und sich hier in Deutschland am politischen Prozess beteiligen. Ich finde, dass sie auch hilfreich sein kann, um sich als Teil unseres Landes zu verstehen. An einem bestimmten Punkt braucht es einfach ein Bekenntnis zur deutschen Staatsbürgerschaft. Dass etwa die türkischen Gastarbeiter und auch deren Kinder, die eine starke Bindung zur Heimat ihrer Eltern haben, die türkische Staatsbürgerschaft nicht aufgeben wollen, verstehe ich. Aber an die dritte Generation sollte die doppelte Staatsbürgerschaft nicht mehr weitervererbt werden. Dieses Modell des Generationenschnitts kommt ja nun wahrscheinlich nach der Bundestagswahl.
Auch Sie selbst haben gezögert, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Dabei sind Sie hier in Deutschland geboren, haben hier studiert, gearbeitet. Trotzdem beantragten Sie erst 2010 einen deutschen Pass. Warum?
Ich habe lange damit gehadert, weil ich lange ebenso meinen türkischen Pass nicht abgeben wollte. Ich bin ein Gastarbeiterkind, zweite Generation, meine Eltern haben eine enge Bindung zur Türkei. Während meine deutschen Schulkameraden in den Sommerferien nach Kroatien, Italien oder Spanien gefahren sind, waren es bei uns immer sechs Wochen Türkei. Das war viel mehr als Urlaub, das war ein Wiedersehen mit Familie und Freunden. Und obwohl ich nur diese sechs Wochen im Jahr da war, habe ich lange Zeit auf die Frage "Wo kommst du her?" mit "Aus der Türkei" geantwortet.
Wann hat sich das geändert?
Anfangs war ich immer traurig, wenn wir wieder nach Deutschland gefahren sind. Mit zunehmendem Alter war ich dann froh, nach Hause zu kommen. Ich fand in der Türkei vieles anstrengend. Erst recht banale Dinge im Alltag. Wenn zum Beispiel kein Preis auf dem Produkt stand und ich dachte, jetzt werde ich wieder übers Ohr gehauen. Oder wenn sich Leute in der Schlange einfach vorgedrängelt haben. Später aber eben auch mehr, wie zum Beispiel die politischen Verhältnisse. Plötzlich wusste ich das deutsche System zu schätzen, das ich sonst oft als zu genau oder kalt empfunden hatte. Und irgendwann wurde mir klar: Ich fühle mich Deutschland zugehörig – ich bin deutsch.
Was war für Sie schließlich der ausschlaggebende Punkt, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen?
Das Schlüsselerlebnis war die Landtagswahl 2010. Da war ich schon Parteimitglied, habe mitgefiebert, mit Wahlkampf gemacht – aber im entscheidenden Moment war ich außen vor. Da habe ich gesagt: Das mache ich nie wieder. Zehn Tage nach der Wahl habe ich die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt.
Viele hier geborene Deutsche mit türkischen Wurzeln sehen aber noch immer die Türkei als ihr Heimatland an, auch wenn ihre Familien schon seit mehreren Generationen hier leben. Warum ist das so?
Viele junge Deutschtürken machen negative Erfahrungen. Das geht los, wenn jemand zu ihnen sagt: Du sprichst aber gutes Deutsch. Dabei sind sie ja hier geboren. Dazu kommt, dass Kinder aus Migrantenfamilien bei gleichen Leistungen in der Schule oft nicht gleich benotet werden und seltener eine Gymnasialempfehlung bekommen. Menschen mit einem ausländischen Namen haben auch schlechtere Chancen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Die jungen Menschen haben das Gefühl, sie können sich anstrengen, wie sie wollen, sie werden nie ankommen in dieser Gesellschaft, weil man sie nie als Deutsche wahrnehmen wird. Irgendwann sagen sie dann: Meine Heimat ist die Türkei, mein Präsident heißt Erdogan und dem fühle ich mich verbunden. In Deutschland lebe ich nur, Punkt. Das ist auch eine Trotzreaktion.
Und deshalb dringt Erdogan mit seinen Botschaften bei ihnen so gut durch?
Erdogan schafft es, die Herzen dieser Menschen anzusprechen. Er gibt ganz vielen Deutschtürken, egal welcher Generation, das Gefühl, endlich wieder stolz sein zu können. Voller Stolz sagen zu können: Ich bin Türke. Das wird eng in Verbindung gebracht mit dem wirtschaftlichen Aufstieg der Türkei. Man ist jetzt wieder wer, man ist jetzt Global Player. Das führt dazu, dass sich viele gerne diesem Land zugehörig fühlen. Auch die, die in Deutschland geboren wurden. Sie stürmen jetzt in die Hallen, wenn türkische Politiker hier auftreten. Dabei würden es viele von denen – da gehe ich jede Wette ein – keine drei Monate in der Türkei aushalten.
Hat Deutschland bereits bei der Integration der Gastarbeitergeneration Fehler gemacht?
Was die Arbeitsmarktintegration betraf, ist wenig schiefgelaufen. Ich sehe das bei meinen Eltern. Mein Vater kam durch das Anwerbeabkommen nach Deutschland. Er hatte immer einen Job. Aber was die soziale Integration betrifft, die sprachliche Integration, was Deutschland verstehen betrifft, ist das meinen Eltern nie wirklich gelungen. Dieser Prozess ist komplett gescheitert. Kommen Sie meinen Eltern nicht mit dem föderalen System Deutschlands an, die verstehen das immer noch nicht, dass es 16 Bundesländer gibt. Aber als meine Eltern hier ankamen, wurde ja auch überhaupt nicht in Dimensionen der Integration gedacht. Integrationskurse, wie sie heute zum Beispiel alle Flüchtlinge mit Bleibeperspektive besuchen können, gibt es erst seit 2007. Wäre meinem Vater in den 60er Jahren so etwas geboten worden, hätte er heute die Möglichkeit, sich mit Ihnen auf Deutsch zu unterhalten. Aber trotzdem sehe ich diese Generation nicht als das Problem.
Warum?
Diese Generation mag sozial wenig integriert sein, sie mag kein Deutsch sprechen, aber sie tut keinem weh. Das Problem ist die jüngere Generation. Schauen Sie nach Frankreich: An den Aufständen dort waren vor allem Einwandererkinder beteiligt, die alle fließend Französisch sprachen, aber sich nicht akzeptiert fühlten. Das Problem haben wir in Deutschland in milderer Form. Die dritte Generation spricht Deutsch, besucht die Bildungseinrichtungen, hat alle Chancen - aber sie nutzt sie nicht. Weil auch sie sich hier nicht akzeptiert fühlt.
Was lässt sich denn nun tun, damit sich das ändert?
Rein rational werden wir sie nicht erreichen, Erdogan erreicht sie ja auch nur über die emotionale Ebene. Wir brauchen also ein bisschen mehr Gefühl, um ihnen klar- zumachen, dass sie hierhin gehören. Sigmar Gabriel hat kürzlich einen Versuch unternommen mit einem offenen Brief in der Zeitung, in dem er sich an die türkischen Mitbürger wendete. Ich kann Ihnen sagen, das kam alles andere als gut in der Community an. Viele fanden: zu nah am Wahlkampf, zu kalkuliert. Die Kanzlerin hat in der Vergangenheit ebenfalls gesagt: Ich bin auch die Kanzlerin der türkischen Mitbürger. Aber das passiert noch zu wenig. Wir müssen den Deutschtürken viel öfter deutlich machen, dass sie zu uns gehören – nicht nur im Wahlkampf.
Aber allein mit Worten kann es ja nicht getan sein...
Natürlich müssen wir das, was diesen Menschen wichtig ist, in unser politisches Blickfeld nehmen. Zum Beispiel beim Thema Arbeitsmarktintegration, Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt und vor allem beim Thema Bildungseinrichtungen.
Wie lässt sich erreichen, dass mehr Kinder mit Migrationsgeschichte eine gymnasiale Empfehlung bekommen? Braucht es eine Migrantenquote bei der Lehrerausbildung?
Ich bin gegen Quoten. Das Thema Interkulturalität muss stärker in die Lehrerausbildung verankert werden. Einige Lehrer legen aber im Umgang mit Migrantenkindern eine falsche Fürsorge an den Tag: Sie entscheiden sich dafür, keine Gymnasialempfehlung zu geben, weil sie das Gefühl haben, das Kind hätte nicht genügend Unterstützung aus dem Elternhaus und wird es am Gymnasium nicht schaffen. So wollen sie es vor einer Enttäuschung bewahren. Aber da sollte man lieber mit den Eltern über Nachhilfe reden, als dem Kind vielleicht etwas zu versperren. Wenn es uns hier gelingt, Fortschritte zu machen, können wir in zehn, zwölf Jahren auch stärker über andere Berufe sprechen, als den des Dönerverkäufers oder der Schneiderin.
Müssen alle Integrationsbemühungen vom deutschen Staat, von der deutschen Gesellschaft ausgehen?
Nein, aber es ist vor allem in unserem eigenen Interesse. Nach dem Attentat in Hamburg haben alle nach schnelleren Abschiebungen gerufen. Bei Flüchtlingen ist das tatsächlich möglich, wenn man es konsequent umsetzt. Aber Türkischstämmige können sie nicht abschieben, die werden künftig weitgehend deutsche Staatsbürger sein oder eine Niederlassungserlaubnis haben. Wenn sie Probleme haben, leidet die Gesamtgesellschaft darunter. Nichtsdestotrotz hat natürlich auch die türkische Community eine große Verantwortung.
Welche ist das?
Sie muss das, was man ihr anbietet, auch annehmen. Es ist ihre Verantwortung, aufsteigen zu wollen, vorankommen zu wollen, das kann ihr niemand abnehmen.
Was bedeutet denn der derzeitige Konflikt zwischen Deutschland und der Türkei für den Zusammenhalt innerhalb dieser türkischen Community?
Es ist ein großer Riss entstanden. Da sind die einen, die der türkischen Propaganda aufgesessen sind und glauben, Deutschland wolle der Türkei schaden, weil es den türkischen Erfolg nicht vertrage. Die anderen sind der Meinung, Deutschland muss noch viel härter gegenüber der Türkei auftreten. Es gibt Familien, die nicht mehr miteinander reden deswegen. Ehen sind geschieden worden. Mein Mann und sein bester Freund, mit dem er in die Schule gegangen ist, sprechen beispielsweise seit Monaten nicht mehr miteinander.
Zum Teil werden Erdogan-kritische Türken in Deutschland sogar eingeschüchtert und bedroht. Erleben Sie selbst ebenfalls Anfeindungen?
Vertreter diverser türkischer Einrichtungen haben versucht, auf mich in meiner Zeit als Abgeordnete im Landtag von Nordrhein-Westfalen Druck auszuüben. Sie glaubten, dass ich im Parlament dazu da gewesen wäre, die türkische Stimme zu vertreten. Es hat lange gedauert, bis die Leute verstanden haben: Ich vertrete meinen Wahlkreis, 140.000 Menschen. Die meisten davon sind keine Türken. Deshalb bin ich für einige eine Enttäuschung. Und wenn Sie die türkische Presse über mich lesen, dann bin ich neben Cem Özdemir von den Grünen und Sevim Dagdelen von der Linken mitunter die größte Vaterlandsverräterin. Wirklich beeindruckt hat mich das aber nicht.
In der Türkei kann es dagegen schnell sehr ernst werden. Ein Wuppertaler Familienvater mit türkischer Staatsangehörigkeit wurde kürzlich festgesetzt, als er für den Sommerurlaub in die Türkei reiste. Wie beunruhigt ist man in Ihrem Umfeld über die Reisewarnungen?
Es gibt viele, die lassen sich nicht beeindrucken. Ich kenne aber auch Menschen, die im Flieger anfangen, ihre Profile in den sozialen Netzwerken auf dem Handy durchzuforsten und Postings zu löschen, um bloß nicht aufzufallen, wenn sie kontrolliert werden. Nicht erst seit dem Wuppertaler Familienvater ist da eine große Verunsicherung. Es gibt auch einige, die suchen sich heute andere Ziele für Ihren Urlaub aus – Ziele, wo sie keine Kontrollen zu ihrer Meinung oder politischen Einstellung zu befürchten haben.
Serap Güler (37) wurde in Marl in NRW geboren und wuchs als Kind türkischer Eltern in einer Bergarbeitersiedlung auf. Sie ist Mitglied im Bundesvorstand der CDU. Seit dem 30. Juni 2017 ist sie Staatssekretärin für Integration in der schwarz-gelben Landesregierung in Düsseldorf.