Was macht die Achse Berlin-Paris?: So spaltet die Corona-Krise Europa
Italien fühlt sich allein gelassen, Ungarn droht die Gemeinschaft der Demokraten zu verlassen - und wie reagiert die Kommission unter von der Leyen?
Nie war sie nötiger als jetzt - und nie wirkte sie so hilflos. An der Corona-Krise sehen manche die Europäische Union schon endgültig scheitern. Im Kampf gegen das Virus gehen Grenzzäune runter. Der Nationalstaat wird zum Maßstab des Handelns. Infektionskurven vergleichen tagtäglich zwischen „denen“ und „uns“. Jede Regierung geht auf eigene Faust auf dem Weltmarkt auf Masken-Kauf und präsentiert die Beute dem eigenen Volk.
In den Ländern, die am stärksten leiden, wächst die Wut auf die Bessergestellten in einer Weise wie selbst in der Euro-Krise nicht. Und mancher Regierende, der den Anspruch einer Wertegemeinschaft schon lange lästig fand, sieht jetzt die Gelegenheit gekommen, die letzten liberalen Grundsätze zu schleifen.
Dabei legt die Krise doch zugleich offen, wie abhängig die Staaten und Wirtschaften Europas voneinander sind. Die deutsche Hochleistungsökonomie ist angewiesen auf die Nachbarn, die hier arbeiten - vom bulgarischen Erntehelfer über den tschechischen Fernfahrer bis zur Pflegerin aus Polen, die die Familie davor bewahrt, den alten Vater ins Heim zu geben.
Die deutsche Auto-Vorzeigeindustrie ist sofort am Ende ohne die Zulieferer jenseits der Grenzen. Nicht ohne Grund halten selbst Länder mit rigiden Quarantäne-Vorschriften wie Polen nach einigem Hin und Her an den Grenzen die Extra-Spur für den Warenverkehr frei.
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Der Blick in zwei Länder zeigt, wo Europa konkret gefährdet ist: Italien, das sich von der EU verlassen fühlt, und Ungarn, das die Gemeinschaft der Demokraten zu verlassen droht. Zudem geht es bei der Tagung der EU-Finanzminister am kommenden Dienstag nicht nur um Milliarden, sondern um die Nagelprobe auf Solidarität in Krisenzeiten.
Wie blickt Italien auf die EU und die Corona-Krise?
Ein Video mit Nazi-Anspielungen geht viral. Beleidigungen verstopfen den Social-Media-Kanal der italienischen Filiale einer auch in Italien beliebten deutschen Sandalenfirma. Aber auch jenseits derartiger Auswüchse hat die Corona-Krise in Italien ein Unbehagen bis zur Bitterkeit gegen den (über-)mächtigen Nachbarn Deutschland ausgelöst, wieder einmal. Das Unbehagen reicht bis weit in die politische Mitte hinein, die nicht zum Ressentiment neigt. Was gerade in Europa geschehe, so erklärte kürzlich Enrico Letta im „Corriere della sera“, „ähnelt auf erschütternde Weise der Krise von 2008. Da haben wir es wieder, das deutsche Tabu des Defizits, der Inflation und der Vergemeinschaftung von Schulden.“
Er habe die Kanzlerin immer sehr geschätzt, so der frühere Premier und überzeugte Europäer Letta, aber schon während der Schuldenkrise habe sie dem Schutzschirm vier Jahre zu spät zugestimmt, „eine tödliche Zeitspanne“. Sogar einen bösen Vergleich wagte der eher kühle Letta: Das Nein von Niederländern und Deutschen zu einem gemeinschaftlichen Fonds gegen Corona sei „ein Nein alla Salvini“.
Wie der großmäulige Chef der Rechten fühlten sich auch der niederländische Premier Mark Rutte und die Kanzlerin zu einem „Deutschland zuerst“ oder „Holland zuerst“ berechtigt. Auf der Titanic aber gehe man gemeinsam unter, so Letta. Allerdings will Eurogruppen-Chef Mario Centeno etwas Druck aus der hitzigen Debatte nehmen: Der Portugiese sieht Corona-Bonds nicht als Sofort-Instrument, sondern als mögliches Hilfsmittel für die Zeit nach der Pandemie.
Der amtierende italienische Premier Giuseppe Conte wirbt derweil seit Tagen in deutschen Medien um die deutsche Solidarität. Natürlich könne man die Pandemie auch allein bewältigen, schrieb Conte in der „Zeit“. Aber selbst die stärksten EU-Volkswirtschaften - ein Wink nach Berlin - würden nur wenig schaffen „im Vergleich zu dem, was wir erreichen können, wenn wir einander unterstützen“.
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Ein Brief von zwei Regionalpräsidenten und neun Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, der kürzlich in der „FAZ“ erschien, war überdeutlich: Die Niederlande, so hieß es dort, führe die Nordkoalition gegen einen europäischen Rettungsplan an, „das Land, das durch sein Niedrigsteuersystem seit Jahren allen großen EU-Ländern Ressourcen“ entziehe. Den Preis zahlten die Schwächsten.
„Holland bietet das komplette Beispiel eines Mangels an Moral und Solidarität“, heißt es im Brief, den unter anderem die Stadtoberhäupter von Venedig, Mailand, Bologna und Syrakus unterschrieben. Und Deutschland scheine dem folgen zu wollen, also das Land, dem andere nach dem Zweiten Weltkrieg Milliardenschulden erlassen hätten, um es vor dem Bankrott zu bewahren. „Liebe deutsche Freunde, Erinnerung hilft, die richtigen Entscheidungen zu treffen.“
In der vergangenen Woche hat die „Bild“-Zeitung sogar mit einem gutgemeinten italienischsprachigen Titel „Wir sind an eurer Seite“ das Gegenteil erreicht - indem sie praktisch keins jener Klischees ausließ, die südlich der Alpen als reichlich herablassend ankommen.
Die ganze Seite sei „heuchlerisch, ein peinliches Dokument des Egoismus“, schäumte der Berlin-Korrespondent im gutbürgerlichen „Corriere della sera“. Da würden Italiens Schönheit, Gelassenheit, Pasta, Pizza und Campari gefeiert – „als ginge in Italien niemand zur Arbeit“. Ciao, ihr werdet's schon schaffen, ihr seid stark, schreibe das Blatt. „Kein Hinweis, dass unser gemeinsames Haus Europa bedroht ist. Und keiner darauf, dass es die reicheren Geschwister sind, die den ärmeren helfen sollten“.
Arbeiten Deutschland und Frankreich in der Krise zusammen?
Nur begrenzt. Sieht man einmal von der Aufnahme französischer Covid-19-Patienten in deutschen Kliniken ab, so stehen nationale Lösungen in Berlin und Paris weiterhin hoch im Kurs. Denn ähnlich wie Frankreich hält auch Deutschland bis auf Weiteres an den Grenzkontrollen fest. Nach den Worten eines Sprechers des Bundesinnenministeriums gibt es derzeit in diesem Punkt „keinen Änderungsbedarf“.
Bislang kontrolliert die Bundespolizei an den Grenzen zu fünf Ländern: Österreich, Frankreich, die Schweiz, Luxemburg und Dänemark.
Auf der anderen Seite spielt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron derzeit die protektionistische Karte aus. Bestimmte Güter von strategischem Wert - etwa Atemschutzmasken - müssten künftig in Frankreich und in Europa hergestellt werden, forderte der Staatschef. Landwirtschaftsminister Didier Guillaume warb bei den Verbrauchern sogar dafür, vorzugsweise französische Produkte zu verzehren.
Im Streit um europäische Gemeinschaftsanleihen sind es zwar vor allem Deutschland und die Niederlande auf der einen Seite und Italien auf der anderen Seite, die unterschiedliche Positionen vertreten. Auffällig ist allerdings, dass auch Macron zum Anwalt von Corona-Bonds geworden ist. Vor dem EU-Finanzministertreffen am kommenden Dienstag beteuerte Frankreichs Kassenwart Bruno Le Maire, dass er eng mit seinem deutschen Amtskollegen Olaf Scholz zusammenarbeite.
Tatsächlich sind sich Scholz und Le Maire darin einig, dass erweiterte Kreditlinien aus dem bestehenden Euro-Krisenfonds ESM als Option taugen. Doch Le Maire möchte noch ein zusätzliches Finanzinstrument - einen zusätzlichen europäischen Corona-Hilfsfonds.
Scholz will es hingegen zunächst bei einem Hilfspaket mit drei Elementen belassen: Da sind zum einen die Kreditlinien aus dem ESM. Der Berliner Finanzminister hat vorgeschlagen, beim Euro-Rettungsfonds zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in Anspruch zu nehmen. Italien könnte demnach mit Krediten in Höhe von rund 35 Milliarden Euro rechnen. Als zusätzliche Elemente will Scholz Bürgschaften der Europäischen Investitionsbank EIB und die EU-weite Unterstützung von Kurzarbeit nach dem Vorschlag der Brüsseler Kommission.
Wie reagiert die EU-Kommission in der Krise?
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat es nicht zuletzt Macron zu verdanken, dass sie im vergangenen Jahr in das Brüsseler Spitzenamt gelangte. Doch im Streit um Corona-Bonds schlägt sie sich keineswegs eindeutig auf die Seite Frankreichs. Bei einem Interview im ZDF gab sie zu erkennen, dass sie europäische Gemeinschaftsanleihen eher skeptisch sieht.
Zwar verwies von der Leyen auf die laufenden Beratungen der EU-Finanzminister. Sie sagte aber auch, dass in der Krise Finanzinstrumente benötigt würden, „die Europa einen und nicht spalten“. Mit Blick auf den Vorschlag der Kommission, die Kurzarbeit in der EU mit 100 Milliarden Euro zu finanzieren, sprach sie derweil von einem Vorstoß, „der auf jeden Fall weiterhilft“.
Wie gefährlich ist die Politik des ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán für den Zusammenhalt der EU?
Wenn die Europäische Union „tiefe Besorgnis“ zum Ausdruck bringt, hat sie in der Regel die Krisenregionen dieser Welt im Blick. Dass damit einmal ein Mitgliedsland der EU gemeint sein könnte, ist selbst für erfahrene Diplomaten etwas Neues. In einer gemeinsamen Erklärung kritisieren 17 EU-Staaten, darunter Deutschland, das Notstandsgesetz des ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán, ohne ihn oder sein Land auch nur mit einem Wort zu erwähnen.
In der Corona-Krise sei es legitim, dass die Mitgliedstaaten außergewöhnliche Maßnahmen ergriffen, um ihre Bürger zu schützen, hieß es in der Erklärung. „Wir sind jedoch tief besorgt angesichts der Gefahr, dass die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechte durch das Ergreifen gewisser Notfallmaßnahmen verletzt werden.“
Während die EU-Staaten noch mit der Bewältigung der Corona-Pandemie beschäftigt sind, fordert der autoritär regierende Orbán die EU durch das vor einer Woche erlassene Notstandsgesetz heraus: Er nutzt die Krise dafür, das Parlament in Budapest auszuschalten und sich die Möglichkeit zu sichern, auf unbegrenzte Zeit per Dekret zu reagieren.
Doch von der Kritik aus anderen EU-Staaten lässt sich Orbán nicht beeindrucken - im Gegenteil. Demonstrativ verkündete das Justizministerium in Budapest, Ungarn schließe sich der Erklärung der 17 EU-Staaten an. Damit führt der Regierungschef den Europäern ihre eigene Schwäche vor, die offenbar aus diplomatischen Erwägungen davon Abstand nahmen, Ungarn beim Namen zu nennen.
Seit Jahren wird innerhalb der EU eine Debatte darüber geführt, wie man mit einem Mitgliedsland umgehen soll, das sich Schritt für Schritt von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie entfernt. Das vom Europaparlament eingeleitete Verfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge ist bisher für Ungarn folgenlos geblieben, zumal sich Orbán der Unterstützung Polens sicher sein kann.
In der Corona-Krise hat Orbán diesen Konflikt auf die Spitze getrieben. Das bringt die EU in Zugzwang. Sie muss nun klären, ob aus ihrer Sicht jetzt eine rote Linie überschritten wurde. Eine Reihe von Optionen hätte die EU: Sie könnte künftige Zahlungen für das Mitgliedsland kürzen, weil rechtsstaatliche Prinzipien nicht eingehalten werden. Die Kommission könnte Ungarn vor dem Europäischen Gerichtshof verklagen.
Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner schlägt vor, dass sich eine solche Klage auf Artikel 6 der EU-Verträge stützen könnte, der sich auf die Grundrechtecharta bezieht. „Die Europäische Union kann nicht blind zuschauen, wenn einer seiner Mitgliedstaaten de facto die Gewaltenteilung abschafft", sagt Brantner. Die Kommission solle prüfen, inwieweit ein Eilantrag vor dem EuGH auf Grundlage von Artikel 6 möglich sei.
Auch die Europäische Volkspartei (EVP) sieht sich mit der Frage konfrontiert, wie sie weiter mit der ungarischen Regierungspartei Fidesz verfahren will. Vor einem Jahr hatte die Parteienfamilie entschieden, die Fidesz zu suspendieren. Weil es innerhalb der EVP jedoch weder eine deutliche Mehrheit für einen Ausschluss noch für eine Rückkehr der Ungarn gab, verständigte sich der EVP-Vorstand im Februar darauf, dass es bei der Suspendierung bleibt.
Doch nach der Verabschiedung des Notstandsgesetzes könnte sich die Stimmung ändern. Jetzt fordern 13 Mitgliedsparteien der EVP in einem Brief an den Vorsitzenden Donald Tusk den Rauswurf von Fidesz.
CDU und CSU zählen nicht zu den Unterzeichnern, aber auch hier wächst offenbar die Unterstützung für einen Ausschluss. „Für mich ist jetzt der Rubikon überschritten“, sagt Markus Ferber, Vorsitzender der CSU-Gruppe im EU-Parlament. Das müsse die EVP „auch zum Ausdruck bringen“. Tusk, schon lange als Kritiker Orbáns bekannt, mahnte in einem Brief an die Mitgliedsparteien, dass diejenigen, die in der Vergangenheit gegen einen Ausschluss der Fidesz waren, ihre Positionen überdenken sollten.
Orban macht derweil auch in der Corona-Krise mit seiner antieuropäischen Rhetorik weiter. Im Kampf gegen das Virus komme kaum Hilfe von der EU, beklagte er kürzlich - um gleich hinzuzufügen: „Hilfe haben wir von den Chinesen bekommen.“ Demonstrativ sucht Orbáns Ungarn den Schulterschluss mit einem Land, von dem keine Kritik an Demokratiedefiziten zu befürchten ist.