Zukunft der EU: So nah an Europa dran wie nie
Auf einmal zeigen Bürger Flagge für Europa, auch in Berlin. Die Demonstrationen sind nicht eingeübt – und das ist gut so. Ein Kommentar.
Es ist zwölf Jahre her, dass ein kurzweiliger Film über Europa in die Kinos kam. „One Day in Europe“ hieß er. Der Film des deutschen Regisseurs Hannes Stöhr zeigte Europa, wie es eben ist: Episoden von Europäern, die gleichzeitig an so unterschiedlichen Orten wie dem Jakobsweg oder in Marzahn spielen und trotz aller Unverbundenheit doch den „European Way of Life“ widerspiegeln.
Autokraten wie Putin und Erdogan - das Gegenbild zur EU
Der doppeldeutige Titel des Films beschreibt eine Utopie, denn er lässt sich auch mit „Eines Tages in Europa“ übersetzen. Als Rahmen dient der Geschichte das Europa der Champions League, bei der bekanntlich auch Russland und die Türkei dabei sind. Einer derartigen politischen Utopie ist Europa in den vergangenen zwölf Jahren nicht nähergekommen. Im Gegenteil: Autokraten wie Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan machen klar, wofür Europa gerade nicht steht.
An diesem Samstag gab es auch einen Tag in Europa, wie ihn sich kein Drehbuchautor, wenn er denn das Skript zu einem Film über die EU schreiben wollte, besser hätte ausdenken können. In Rom unterschrieben Angela Merkel und 26 andere Staats- und Regierungschefs der EU eine ziemlich vage Erklärung, aus der hervorgehen soll, wie es mit der Gemeinschaft in den kommenden zehn Jahren weitergehen könnte. Gleichzeitig demonstrierten in der italienischen Hauptstadt Tausende gegen den Sparzwang im Süden der Euro-Zone. Und wieder andere rissen in Berlin vor dem Brandenburger Tor eine symbolische Mauer des Fremdenhasses und der Intoleranz ein.
"Pulse of Europe"-Bewegung entstand nach Trumps Wahl
Ein Tag in Europa: Die unterschiedlichen Demonstrationen für und gegen die EU im Festsaal und auf der Straße an diesem Samstag sind letztlich ein Abbild der gesamten Europadebatte: Den einen ist die EU zu neoliberal, die anderen hätten gerne mehr Schutz an den Außengrenzen gegen Menschenschlepper einerseits und islamistische Terroristen andererseits. Die einen kritisieren die Macht der Lobbyisten in Brüssel, die anderen die langwierigen Entscheidungsabläufe in der Gemeinschaft.
Der Streit um die richtige politische Stoßrichtung der EU ist so alt wie die Gemeinschaft. Neu sind hingegen die Europaflaggen, mit denen tausende Bürger Europas seit Wochen regelmäßig auf die Plätze in Berlin, Amsterdam, Lyon oder Lissabon ziehen. Die „Pulse of Europe“-Bewegung, die auch an diesem Sonntag wieder aufzeigen möchte, dass die EU noch Puls hat, ist aus zwei Phänomenen geboren: zum einen aus der Erkenntnis, dass der „European Way of Life“ von Populisten wie Donald Trump und Marine Le Pen bedroht ist. Und zum anderen aus der Sorge, dass demnächst noch andere EU-Länder dem Beispiel Großbritanniens folgen und aus der Gemeinschaft austreten könnten.
Bürger rücken an "ihr" Europa heran
Man mag darüber spotten, dass es den „Pulse of Europe“-Machern an einem echten politischen Programm fehlt und dass das Abspielen der Europahymne allein noch nicht die Wirtschaft in Griechenland in Schwung bringt, den übermäßigen Anteil der Agrarsubventionen am EU-Haushalt verringert oder die Einschränkungen der Justiz in Polen wieder rückgängig macht. Zudem ist die Frage berechtigt, ob es sich bei den Kundgebungen für die EU nicht in erster Linie um ein deutsches Phänomen handelt, auch wenn am zurückliegenden Wochenende ebenfalls Demonstranten in London und Warschau mit EU-Flaggen auf die Straße gingen.
Trotzdem: Wer erlebt hat, wie sich erfrischend ungeübte Redner Sonntag für Sonntag bei den „Pulse of Europe“-Demonstrationen ans Mikrofon trauen und ihre Meinung zur EU sagen, der ahnt, dass die Bewegung allein schon in ihren ersten Wochen viel erreicht hat. Ein geeintes Europa als Diskussionsgegenstand auf den Plätzen in Deutschland und anderswo – wer hätte je gedacht, dass Bürger eines Tages so nah an „ihr“ Europa heranrücken?