474 Frauenmorde in der Türkei: So kämpfen Aktivistinnen gegen die nachsichtige Justiz
Frauenmörder in der Türkei bekommen oft nur geringe Strafen. Das liegt vor allem an Richtern – das wollen Tausende freiwillige Prozessbeobachterinnen ändern.
Warten, warten, warten: Im Café „Zum Gericht“ gegenüber vom Justizpalast im Istanbuler Stadtteil Bakirköy herrscht Hochbetrieb. Wer es in der Türkei mit der Justiz zu tun hat, muss Geduld mitbringen – die Gerichte sind überlastet, die Verhandlungen verzögern sich oft um Stunden.
Zwischen den Anwälten, Zeugen und Angehörigen, die im Café die Zeit totschlagen, sitzen an einem hinteren Tisch zwei Frauen – die eine jünger und rothaarig, die andere älter mit grauem Pferdeschwanz und bunter Strickjacke. Bei Tee mit Zitrone warten sie an diesem regnerischen Vormittag darauf, dass die 14. Schwurgerichtskammer ihren Rückstand aufholt und den Mordfall Ayten Adigüzel aufruft.
Zeit müsse man dafür schon haben, sagt die jüngere Frau – sie heißt Duygu Bayburt und ist Pilotin bei Turkish Airlines. Wegen ihrer ungewöhnlichen Arbeitszeiten habe sie manchmal werktags frei, erzählt sie; diese Freizeit nutze sie, um als Beobachterin an Prozessen gegen mutmaßliche Frauenmörder teilzunehmen.
474 Frauen wurden von ihrem Partner getötet
„Ich habe mich immer aufgeregt, wenn ich von den vielen Frauenmorden gehört oder gelesen habe, ich wollte etwas dagegen tun“, erzählt die Pilotin. „Bei der Frauenplattform habe ich gelernt, was ich persönlich dagegen tun kann, und nun komme ich als Beobachterin zu solchen Prozessen und habe schon das Gefühl, dass ich etwas bewege.
Von der Plattform „Wir stoppen die Frauenmorde“ spricht Duygu – einer Bewegung, in der sich tausende Frauen in der ganzen Türkei zusammengetan haben, um der Gewalt gegen Frauen entgegenzutreten. 474 Frauen in der Türkei wurden nach Zählung der Vereinigung im vergangenen Jahr von ihren Ehemännern oder Partnern getötet – darunter vermutlich auch die Hausfrau und Mutter Ayten Adigüzel, deren Ehemann dafür heute vor Gericht steht.
Es gibt die notwendigen Gesetze in der Türkei
„Ein relativ typischer Fall“, sagt Oya Ucar, die ältere der beiden Frauen im Café. „Ayten ist wie viele andere Frauen schon lange von ihrem Mann bedroht worden, und wie viele andere hat sie keinen Schutz bekommen. Am Ende ist sie vor den Augen ihrer beiden kleinen Kinder getötet worden.“
Dabei habe die Türkei durchaus die notwendigen Gesetze zum Schutz der Frauen, sagen die beiden Aktivistinnen. „Unser Problem ist, dass diese Bestimmungen von den Behörden nicht ausreichend angewandt werden.“ Daran seien nicht nur Polizei und Staatsanwaltschaft schuld, sondern auch die Gerichte, die Frauenmörder zu nachsichtig behandeln.
Frauenmörder kommen oft mit wenigen Jahren Haft davon
Einen viel zu weiten Ermessensspielraum haben die Richter demnach bei der Strafzumessung. Strafnachlässe gibt es für angeblichen Affekt, für Reue und oft sogar für gute Führung, wenn der Täter in Anzug und Krawatte vor Gericht erscheint.
Nicht selten kommen Frauenmörder dadurch mit wenigen Jahren Haft davon – nicht gerade abschreckend, beklagt die Frauenplattform. Ihre Prozessbeobachterinnen wollen Öffentlichkeit herstellen und die Richter unter Druck setzen, das Strafrecht voll auszuschöpfen.
Das bringe durchaus etwas, sagt die Pilotin Duygu Bayburt. „Zum einen unterstützen wir damit die Angehörigen, die im Gerichtssaal oft schlimm bedrängt werden“, erzählt die Pilotin. Vor Gericht würden oft allerlei Vorwürfe und Verleumdungen gegen das Opfer erhoben, das sich ja nicht mehr wehren könne.
„Da heißt es dann, die Frau habe den Ehemann betrogen, sie habe ihn provoziert oder angegriffen oder sonst etwas - da wird so getan, als könne es einen vernünftigen Grund für so eine Tat geben.“
Mit ihrer Anwesenheit wollten die Prozessbeobachterinnen die Richter daran erinnern, „dass für die Tötung eines Menschen die volle Strafe verhängt werden muss und dass es da keine Nachlässe oder Abstriche geben darf“. Und manchmal sei es tatsächlich ihre Anwesenheit, die den Ausschlag beim Strafmaß gebe – „das ist auf jeden Fall so“.
„Du bist nicht alleine“, steht auf Plakaten
Am frühen Nachmittag ist es endlich soweit, eine Anwältin ruft an: Die Richter haben die Mittagspause durchgearbeitet, um den Zeitplan aufzuholen; die Beobachterinnen eilen über die Straße ins Gericht.
Vor dem Saal umarmen sie die Angehörigen der getöteten Frau, dann geht es los. Der angeklagte Ehemann wird von Gefängniswärtern vorgeführt, er trägt tatsächlich Anzug und weißes Hemd. Seine Frau habe sich während eines Ehestreites selbst erschossen, gibt er an. Das Gericht hört ein paar Zeugen an und vertagt die Verhandlung, um weitere Zeugen vorzuladen.
Draußen auf der Straße packen Duygu und Oya lila Pappschilder aus und stellen sich mit der Mutter und den Schwestern der getöteten Frau vor das Gerichtsgebäude: „Du bist nicht alleine“, steht auf den Plakaten. Ein paar Reporter sind dem Aufruf der Frauenplattform gefolgt und zum Fototermin erschienen.
Was sind schon zwölf Jahre?
Eine Schwester der Toten, Sultan Gültepe, wendet sich an die Pressevertreter. „Ich beschwöre alle Amtsträger: Bitte macht dem doch ein Ende!“, appelliert sie in die Mikrofone. „Neulich ist wieder ein Frauenmörder mit zwölf Jahren davongekommen. Zwölf Jahre! Ein Mensch ist tot, hat sein Leben verloren - was sind da schon zwölf Jahre? Wir wollen, dass der Mörder meiner Schwester lebenslang bekommt.“
Duygu und Oya verabschieden sich von der Familie. Eine Cousine umarmt sie beide. „Ich danke Euch, dass ihr da seid und den Fall an die Öffentlichkeit bringt“, sagt sie. „Wenn der Mord an Ayten nicht durch die Frauenplattform publik gemacht worden wäre, dann wäre er ganz sicher vertuscht worden.“ Prozessbeobachterin Oya Ucar seufzt. Sicher sei ihr Einsatz wichtig, sagt sie, aber das zeige doch gerade, wie schlimm es um die Gerechtigkeit für Frauen in der Türkei bestellt sei.
„Eigentlich sollte es ja nicht notwendig sein, dass wir anwesend sind, damit ein Mörder bestraft wird“, sagt sie. „Die Gesetze sind eindeutig, man muss sie nur anwenden. Aber wenn die Gesetze nur angewandt werden, weil wir da sind und Druck machen, dann stimmt doch etwas nicht.“