Neuwahlen in der Türkei: So formiert sich die Opposition gegen Erdogan
In der Türkei stehen im Juni richtungsweisende Wahlen an. Präsident Erdogan steht durch geschickte Manöver seiner politischen Gegner unter Druck.
Wird Recep Tayyip Erdogan nervös? Der ohnehin streitbare türkische Präsident regte sich bei einer Parlamentssitzung Anfang der Woche in seiner Ehrenloge dermaßen über die Opposition auf, dass er einem Abgeordneten der Regierungsgegner mit Prügel drohte: „Wenn ich da unten gewesen wäre, hätte ich ihm die Lehre erteilt, die er verdient“, sagte Erdogan, nachdem er die Sitzung der Volksvertretung wutentbrannt vorzeitig verlassen hatte. Ein Grund für Erdogans Reizbarkeit liegt möglicherweise in der Tatsache, dass die zersplitterte Opposition ihre Differenzen zurückstellt, um eine breite Allianz gegen ihn und seine Regierungspartei AKP zu bilden. Im Mittelpunkt ihrer Bemühungen vor den Neuwahlen am 24. Juni steht eine mögliche Präsidentschaftskandidatur des früheren Staatschefs und ehemaligen Erdogan-Genossen Abdullah Gül.
Seit ihrem Regierungsantritt im Jahr 2002 hat die islamisch-konservative AKP nicht nur von ihren politischen und wirtschaftlichen Erfolgen profitiert, sondern auch von der Schwäche der Opposition. Säkularisten, Kurden, Nationalisten und islamistische Konkurrenten Erdogans hatten der AKP lange Jahre nichts entgegenzusetzen, weil sie sich untereinander nicht einig waren. Vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 24. Juni gibt es Anzeichen dafür, dass es diesmal eine Einigung auf das Ziel geben könnte, einen erneuten Wahlsieg des 64-jährigen Erdogan zu verhindern. So erlebt die Türkei in diesen Tagen konstruktive Gespräche zwischen der säkularen Partei CHP, der islamischen Saadet-Partei und der nationalistischen Iyi-Partei. Auch die legale Kurdenpartei HDP deutet an, sich im Notfall mit einem Oppositionskandidaten Gül abfinden zu wollen.
In der bisher spektakulärsten Aktion der Erdogan-Gegner ließ CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu jetzt 15 CHP-Abgeordnete im Parlament zur Iyi-Partei übertreten. Das beschert ihr, die bisher nur fünf Abgeordnete hatte, ab sofort Fraktionsstärke. Ihre Wahlteilnahme am 24. Juni ist damit garantiert. Kilicdaroglu durchkreuzt so den Plan von Erdogan und dessen nationalistischem Partner Devlet Bahceli, die erst kürzlich gegründete Iyi-Partei durch den frühen Wahltermin von der Teilnahme auszuschließen. Die Iyi-Partei spricht ähnliche konservative Wählerschichten an wie Erdogans AKP und Bahcelis Partei MHP und ist aus Sicht der Regierung daher besonders gefährlich. In Ankara kursiert zudem das Gerücht, mehrere AKP-Abgeordnete wollten noch vor der Wahl zur Saadet-Partei wechseln, die Abdullah Gül als Kandidaten ins Gespräch gebracht hat.
Völlig unumstritten ist Gül jedoch nicht
Zu einer Kandidatur seines ehemaligen Weggefährten Gül wollte sich Erdogan bisher nicht äußern: „Da müsst ihr ihn selber fragen“, sagte er Journalisten. Das würde jeder Reporter in der Türkei sehr gerne tun, doch Gül hält sich noch bedeckt. Saadet-Chef Temel Karamollaoglu will an diesem Mittwoch mit dem Ex-Präsidenten sprechen, der sich seit seinem Ausscheiden aus dem höchsten Staatsamt vor vier Jahren von einem Anhänger Erdogans zu einem Kritiker der zunehmend autokratischen Tendenzen der Regierung gewandelt hat.
Völlig unumstritten ist Gül jedoch nicht. Ihm wird vorgeworfen, als Präsident jahrelang alle politischen Wünsche Erdogans erfüllt und damit zum Demokratie-Abbau beigetragen zu haben. In der Presse wird spekuliert, Gül wolle sich nur dann zu einer Kandidatur bereiterklären, wenn er als Bewerber eines breiten Bündnisses antreten könne und wenn der immer noch hoch angesehene Ex-Wirtschaftsminister Ali Babacan als Vizepräsident mitmache.
Unterdessen zeichnet sich neuer Streit zwischen der Türkei und Deutschland wegen des geplanten Besuches des türkischen Außenministers Mevlüt Cavusoglu bei der Gedenkfeier zum 25. Jahrestag des Brandanschlags von Solingen im Mai ab. Regierungsnahe türkische Medien melden, die Stadt Solingen verlange vorab den Text von Cavusoglus Rede, um sicherzugehen, dass er die Feier nicht zur Wahlkampfkundgebung umfunktioniert.