SPD-Parteitag: Sigmar Gabriel und seine Genossen: die Widerwahl
Im Saal erheben sich die Delegierten, um für Sigmar Gabriel zu klatschen und ihn zu ermutigen. 74,27 Prozent – das ist noch weniger als befürchtet. Die Genossen wissen: Wenn der Vorsitzende jetzt hinwirft, ist das eine Katastrophe für die ganze Partei.
Für einen Moment wird es furchtbar still in der Parteitagshalle. Es ist 15.20 Uhr am Freitag, und die deutsche Sozialdemokratie steht für eine Sekunde am Abgrund. Gerade hat die Parteitagsregie das Wahlergebnis für Sigmar Gabriel bekannt gegeben, 74,27 Prozent. Das ist ein so schlechtes Ergebnis, dass sich viele der Delegierten fragen: Tritt Gabriel zurück?
In der ersten Reihe auf dem Podium sitzt der gedemütigte Parteichef. Was geht in ihm vor? Er hat ein seltsames Lächeln aufgesetzt. Gabriel atmet tief durch, presst die Lippen aufeinander. Dann steht er auf und geht zum Pult. Alle spüren: Der Moment der Entscheidung ist da. Vielleicht müssen die deutschen Sozialdemokraten gleich einen neuen Vorsitzenden suchen. Es wäre der 15. nach dem Krieg. Keine andere Partei verschleißt so viele Führungskräfte wie die SPD.
Im Saal erheben sich die Delegierten, um Gabriel Mut zuzuklatschen. Sie wissen: Wenn der Vorsitzende jetzt geht, ist das eine Katastrophe für die gesamte Partei. „Setzt euch mal wieder hin“, sagt Gabriel. „Man muss nicht erst auf dem Stimmzettel dagegen stimmen, und dann aufstehen und klatschen.“
Was dann folgt, ist eine Abrechnung und eine Kampfansage. Sie gilt jenen, die ihm gerade ihre Stimme verweigert haben und die zum Großteil vom linken Flügel kommen. Er wisse schon, was morgen in den Zeitungen stehen werde, sagt er: „Gabriel abgestraft.“ Und das sei auch wahr. Zu Recht werde die Frage gestellt, ob ein Vorsitzender mit so einem Ergebnis seine Partei zum Wahlsieg führen könne.
Seine Antwort: Er wird es trotzdem versuchen. Ohne Rücksicht auf die Gegner in den eigenen Reihen. Er könne gut verstehen, dass manche in der SPD nicht einverstanden seien mit dem, wofür er stehe. „Aber jetzt ist mit Dreiviertelmehrheit in dieser Partei entschieden, wo es langgeht, und so machen wir es jetzt auch. Deshalb nehme ich die Wahl an.“ Jetzt atmen sie auf, die Genossen, oben auf dem Podium und unten in den Reihen. Aber sie wissen auch, dass sie dieser Parteitag noch lange beschäftigen wird.
Vielleicht ist es einfach ein ehrliches Ergebnis nach einer ehrlichen Rede. Vielleicht hat es aber auch damit zu tun, dass Gabriel nach seiner Rede einen Fehler gemacht hat.
Dabei beginnt alles wie geplant. 107 Minuten lang spricht Gabriel am Morgen zu den Delegierten. Es ist keine mitreißende Rede.
Gabriel blickt konzentriert. Ein ernsthafter Politiker in sehr ernsten Zeiten – so will er wirken, so ist seine Rede angelegt. Gefahren überall: Die Gewalt im Nahen Osten treibt Millionen Menschen in die Flucht, Terroristen schlagen in Paris zu, in Europa sind die Rechtspopulisten auf dem Vormarsch. Es ist ein Panorama der Krisen, das der SPD-Politiker beschreibt.
Und gerade jetzt in diesen Zeiten der Krise solle die Sozialdemokratie Verlässlichkeit und Stabilität bieten. Einfache Antworten verspricht er nicht. „Lasst uns lieber etwas nachdenklich sein als zu laut“, fordert er.
Das ist eine bemerkenswerte Aussage für einen Politiker, der in der eigenen Partei vielen impulsiv und manchmal übergriffig vorkommt. Etliche Sozialdemokraten haben Zweifel, ob er der Richtige ist – nicht nur als Parteichef, sondern auch als Kanzlerkandidat. Mit seiner Rede will er deshalb die Genossen überzeugen und zugleich die Bedingungen klarstellen, ohne die er als künftiger Herausforderer von Angela Merkel nicht zu haben ist.
Die Delegierten wirken ermattet
Die Stimmung im Saal ist gedämpft. Die Delegierten wirken ermattet, ein Kenner der SPD-Binnenwelt spricht von „Phlegma“. Da hilft es auch nicht viel, dass Gabriel der Partei ein überraschendes Versprechen macht: Keine direkte Beteiligung der Bundeswehr an Kampfhandlungen in Syrien oder der Region ohne Zustimmung der SPD-Basis – dafür gibt es viel Applaus. Nur die Mitglieder und niemand sonst habe das Recht, „in einer so entscheidenden Frage die Position der SPD zu bestimmen“.
Doch ansonsten erreicht Gabriel seine Zuhörer kaum. Es liegt nicht nur daran, dass er nicht so kämpferisch auftritt wie sonst oft. Es liegt eher daran, was er sagt – und nicht, wie. Manchen da unten im Publikum geht es schlicht gegen den Strich, was Gabriel als Voraussetzungen für einen SPD-Erfolg bei der Bundestagswahl in zwei Jahren benennt. Und dabei verbiegt er sich nicht, im Gegenteil.
Die grundsätzlichen Differenzen mit Teilen der eigenen Partei spricht er nämlich offen an. Da ist zum Beispiel die Frage, wie die Sozialdemokratie mit jenen umgehen soll, die beim Wort ,Willkommenskultur’ nicht in Jubel ausbrechen. Volle Härte gegen Rechtsextremisten, gegen „dieses Pack“, wie er sagt. Aber: Werben um alle, die angesichts des Flüchtlingszuzugs verunsichert sind und unbequeme Fragen an die Politik haben. Die Ausgrenzung des Rechtsradikalismus allein reiche nicht, mahnt Gabriel. „Wir müssen um jede Seele kämpfen.“ Das gefällt nicht jedem in der SPD, auch in der Parteiführung gibt es darum Streit.
Gabriel weiß das, aber er macht gleich weiter, spricht über die Wirtschafts- und Steuerpolitik. Er will die SPD in die Mitte rücken, im Wahlkampf 2017 voll auf Wirtschaftskompetenz setzen. Dabei stellt er eine Rechnung auf, die für die Umverteilungspolitiker vom linken Flügel einer Kriegserklärung gleichkommt: Eine Anhebung des Einkommenspitzensteuersatzes bringe nur 1,8 Milliarden Euro zusätzliche Staatseinnahmen. Dagegen stärke ein um nur ein halbes Prozentpunkt höheres Wirtschaftswachstum den Staat um mehr als das Doppelte.
Nur einer klatscht an dieser Stelle. Und es ist kein SPD-Delegierter, sondern der DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben.
Gabriel spürt, dass er sein Publikum zu verlieren droht – und wird emotional. „Manche schreiben ja, ihr würdet mich nur wählen, weil kein anderer zur Verfügung steht“, sagt er und legt nach: „Vorsitzender der SPD zu sein, ist kein Opfergang. Für mich ist es das stolzeste und ehrenvollste Amt, das man in der demokratischen Politik dieses Landes haben kann.“ Noch ahnt Gabriel nicht, wie viele Delegierte da schon abgesprungen sind.
Am Ende wird es persönlich
Zum Schluss versucht es der Parteichef mit einer persönlichen Geschichte. Sie handelt von Marie, seiner dreijährigen Tochter. „Wie lange musst du denn noch zu Angela Merkel gehen?“, hat ihn das Kind kürzlich gefragt, so erzählt er. Seine Antwort: „Keine Angst, nur noch bis 2017.“ Soll heißen: Die SPD will nach der nächsten Bundestagswahl nicht nur mitregieren, sondern das Kanzleramt erobern. Für so eine Kampfansage kriegt er dann doch Applaus. Für seine Unterstützer ist der Fall damit klar: Die Wiederwahl des Vorsitzenden ist nun nur eine Formsache. Mindestens 85 Prozent für Gabriel – so lauten die Voraussagen.
Doch noch wird nicht gewählt, erst kommt die Aussprache. Und die hat es in sich. Denn Juso-Chefin Johanna Uekermann nutzt die Gelegenheit, um dem Parteichef in aller Öffentlichkeit das Misstrauen auszusprechen: Sie könne es gut verstehen, wenn manche sagten, sie könnten der SPD nicht glauben, „dass sie wirklich das tut, was sie sagt“. Anders formuliert: Die Chefin des Parteinachwuchses verdächtigt den Vorsitzenden der deutschen Sozialdemokratie der Lüge.
Jetzt ist es vorbei mit Gabriel, dem kontrollierten Staatsmann. Die Juso-Chefin hat den politischen Raufbold in ihm geweckt, der nichts auf sich sitzen lassen kann und sofort zum Gegenangriff übergeht. Ohnehin hat ihn Uekermann bis aufs Blut geärgert, weil sie ihm neulich in einem Interview die Note Vier minus erteilte und im gleichen Atemzug Merkels Flüchtlingspolitik lobte.
Nun weist er die junge Frau zurecht. Monatelang habe sie im Parteivorstand geschwiegen, nun füge sie der gesamten Partei und ihren Jusos Schaden zu. Wenn Uekermann der SPD-Führung unterstelle, sie stehe nicht zu ihren Worten, dann erhebe sie damit „den schlimmsten Vorwurf, den du mir machen kannst“. Minutenlang geht das so – und Gabriels Unterstützern in der Halle wird es mulmig. Der besonnene Parteiführer in ernsten Zeiten wirkt plötzlich, als habe er sich selbst nicht im Griff. Klug sei diese „Schulmeisterei“ nicht gewesen, wird später ein Vertrauter Gabriels sagen. Doch der einzige Grund für Gabriels Desaster ist sein Angriff auf die junge Frau nicht.
Gabriel wirkt betroffen - und trotzig
Gabriel weiß das, als er nach der Bekanntgabe der Niederlage am Pult steht und erklärt, wie er mit ihr umgehen will. Betroffen wirkt er, aber auch trotzig: jetzt erst recht! Er will nun kämpfen für die Überzeugungen und Inhalte, die mehr als ein Viertel der Genossen für schlimmer halten als einen massiv beschädigten Parteichef. Auf sie will er keine Rücksicht mehr nehmen.
Und so spricht er alles Strittige noch einmal an: das Freihandelsabkommen TTIP, die Vorratsdatenspeicherung, die Wirtschaftskompetenz und die Absage an Steuererhöhungen. „Ich habe, gebe ich zu, euch nicht geschont, weder in den vergangenen zwei Jahren noch in der Rede.“ Es ist die Ankündigung, dass er das künftig erst recht nicht tun will.
Oben auf dem Podium steht die SPD-Führungsriege auf, Minister, der Fraktionschef, Parteivizes umarmen ihn, klopfen ihm aufmunternd auf den Rücken. Später wird noch Gerhard Schröder anrufen, um ihn ebenfalls zu bestärken. Keiner hat mehr Erfahrung mit der Widerspenstigkeit der SPD. Sein Rat: Hart bleiben, Kurs halten.
Den Live-Blog zum SPD-Parteitag finden Sie hier.