Flüchtlinge als Thema im Theater: Spiele ohne Grenzen
Die Toten kommen: Seit Wochenanfang führt das "Zentrum für Politische Schönheit" die radikalste denkbare Deutung der „Antigone“ des Sophokles auf. Die Aktivisten überführen die Leichen von Flüchtlingen nach Berlin, um sie dort beizusetzen. Die umstrittene Aktion ist kein Einzelfall. Überall machen sich derzeit Theater das politische Drama zu eigen.
Auch nach fünf Spieltagen ist die Rolle des Kreon noch nicht besetzt. Offiziell zumindest mag bislang kein Politiker in dieser bizarren Inszenierung den Part des Herrschers von Theben übernehmen, der dem Toten das Grab auf seinem Boden verwehrt und damit die Maske des Humanismus endgültig ablegt.
Die Gesichter der Macht konnte man sich schon bei der ersten Beisetzung eines „gescheiterten Einwanderers Europas" auf dem muslimischen Friedhofsfeld in Gatow selbst auf die leeren Stühle imaginieren, die das Zentrum für Politische Schönheit dort für die politischen Entscheidungsträger aufgestellt hatte. Und auch die zweite Beerdigung ist am Freitag in Schöneberg über die Bühne gegangen, ohne dass die Kreon-Staatsmacht dazwischengeschlagen hätte.
Seit Wochenanfang führt das Zentrum für Politische Schönheit unter dem Decknamen „Die Toten kommen“ die radikalste Deutung der „Antigone“ des Sophokles auf, die seit Langem zu sehen war. Die Aktionskünstler um Philipp Ruch haben dafür – zumindest behaupten sie das – Grenzen überschritten, nach Italien und Griechenland, um einige der dort in anonymen Massengräbern verscharrten Menschen zu exhumieren, die an den Außenmauern Europas gestorben sind und selbst als Leiche unerwünscht bleiben.
So wie Antigones Bruder Polyneikes. In der deutschen Hauptstadt sollen die Geflüchteten ihre letzte Ruhe finden. Theater mit echten Toten?
Europa weist den Flüchtlingen die Rolle der Randständigen zu. Das Theater holt sie als Hauptdarsteller ins Rampenlicht. Lebend oder tot. In persona oder als Figur. Noch selten hat eine soziale Bewegung mit solcher Wucht die Bühnen erfasst. Republikweit, besonders in Berlin. Ob am Maxim Gorki Theater, im Heimathafen Neukölln, HAU oder bei den Autorentheatertagen am Deutschen Theater – die Asylpolitik treibt die Kunst um. Dass hier nicht nur edle Absicht waltet, sondern auch der übliche Relevanz-Vampirismus, der sich gern mit brisanter Gegenwart vollsaugt, sei dahingestellt. Der Punkt ist ja eher, dass der Link in die Wirklichkeit nicht genügt, um gute Kunst zu produzieren.
Das Zentrum für Politische Schönheit versteht sich auf spektakuläre Inszenierungen. Das haben Ruch und seine Leute immer wieder bewiesen, zuletzt mit der Entwendung und Entsendung der Mauerkreuze aus dem Regierungsviertel inmitten der Wiedervereinigungsfeiern.
Sicher sind hier gewiefte Strategen des Guerillamarketings am Werk. Klar knallt schon der Titel „Die Toten kommen“ marktschreierisch in die Stadt. Allerdings hat Lautstärke der Kunst noch nie geschadet, solange sie nur etwas zu sagen hat. Aber ist das Kunst oder doch nur Aktivismus? Die Frage wäre, wieso wir diese Grenze brauchen. Und welcher Frontex-Verbund im Theater darüber wachen soll. Die Bestattung ertrunkener Flüchtlinge mitten in Berlin produziert so oder so starke Bilder. Und es werden weitere dazukommen, wenn sich am Sonntag der vom Zentrum für Politische Schönheit aufgerufene „Marsch der Entschlossenen“ mit Baggern Richtung Kanzleramt in Bewegung setzt, um den Vorplatz in ein Friedhofsfeld zu verwandeln. Spätestens dann wird die Staatsmacht aufmarschieren, um der Inszenierung ein Ende zu bereiten. Damit rechnen die Macher.
An zu viel Realität verbrennt sich das Theater leicht die Finger. Vor ein paar Tagen erst ereignete sich während der Uraufführung des Stückes „Brennpunkt X“ am Staatstheater Saarbrücken das, was gern „dramatische Szene“ genannt wird. Ein Mann im Publikum erhielt während der Vorstellung die Nachricht, dass sich in seiner syrischen Heimat gerade Furchtbares ereignet hatte. „Assad hat mein Haus bombardiert. Mein Bruder ist tot“, soll er gerufen und das Theater unter Schock verlassen haben. Das übersteigt auch das Fassungsvermögen eines dokumentarischen Stücks wie „Brennpunkt X“, das auf einer Recherchevorlage von Nuran David Calis basiert und Flüchtlinge auf die Bühne holt.
„My life is in danger!“, schreien die Zuschauer im Stück „Labyrinth“. Sie sind in die Rolle des Somaliers Mohammed Hassan Abdi versetzt, der Jahre in einem höllenähnlichen bürokratischen Limbo in Holland zugebracht hat. Weil Abdi einer Generation angehört, der keine Papiere ausgestellt wurden, konnte er seine Herkunft nicht nachweisen – was sowohl seinen Asylantrag als auch seine Abschiebung unmöglich machte. Schon fast eine Randnotiz, dass Abdi, der zwei Jahre lang von der islamistischen Terrororganisation Al Shabaab als Geisel gehalten wurde, durch einen Übersetzungsfehler als deren Mitglied abgestempelt war.
In „Labyrinth“ durchläuft man die Stationen seiner Odyssee: Immigrations- und Einbürgerungsbehörde, Anwaltskanzlei, Gerichtssaal, Gefängniszelle, Rückführungsbehörde. Regisseur Nicolas Stemann hat das dokumentarische Projekt in Amsterdam mit der Flüchtlingsinitiative „We are here Cooperative“ entwickelt. Es kann allerdings während der Autorentheatertage am DT nur als Installation gezeigt werden, weil 20 von 22 Beteiligten nicht reisen dürfen.
„Labyrinth“ trägt nicht Stemanns Regiehandschrift. Sondern ist befeuert vom Wunsch der Flüchtlinge, dass man sich in ihre Haut versetzen möge. So steht man in einem der mit Stoffbahnen abgetrennten Räume auf der Bühne, der die Aufschrift „Street“ trägt und in dem man das Leben auf der Straße im Regen eines Gartenschlauchs nacherleben soll. Die Hilflosigkeit des Einfühlungstheaters war selten so beklemmend zu greifen.
Das gleiche Problem hat die Installation „Right of Passage“ der Gaming-Theater-Gruppe machina eX, die derzeit im Hebbel am Ufer läuft. Machina eX, spezialisiert auf interaktive Adventures, haben im HAU3 ein Flüchtlingscamp an der Grenze zur fiktiven Lörischen Republik errichtet. Hier muss der Besucher als Spieler einen Rätselparcours überwinden, um Dokumente für die Ausreise zusammenzusammeln. Dabei werden einem Stifte ohne Mine angedreht. Oder man muss auf einer Schreibmaschine mit enigmatischer Tastenbelegung seinen Asylantrag tippen. Das Flüchtlingsdasein als Gesellschaftsspiel mit Erlebnischarakter – zynischer geht's kaum.
Schon wohltuend reflektiert nimmt sich dagegen ein Stück wie Philipp Löhles „Wir sind keine Barbaren“ aus, das in der Regie von Ronny Jakubaschk am Neuen Theater Halle zur Premiere gekommen ist und ebenfalls bei den Autorentheatertagen in Berlin zu sehen war. Löhle erzählt von zwei Paaren im Spießerheim mit Schrankwand, denen ein Flüchtling ins Haus schneit, den man nie zu Gesicht bekommt. Er ist nur Projektionsfigur für die irren Ängste und Vorurteile, mit denen wir mehrheitlich unterwegs sind. Nicht um den Anderen, Fremden geht es. Sondern um unseren Umgang mit ihm.
Darauf zielt auch die Aktion des Zentrums für Politische Schönheit. Die Beerdigungen in Berlin rufen nicht nur „Antigone“ wach, sondern auch Shakespeares „Hamlet“. Fünfter Akt, erste Szene, Dialog der Totengräber, ob einem Selbstmörder ein Begräbnis in geweihter Erde gegönnt sein soll. Hier steht das Wasser, dort steht der Mensch. „Aber wenn das Wasser zu ihm kommt und ihn ertränkt, so ertränkt er sich nicht selbst.“ Was anderes als ein Suizidversuch ist es für tausende Flüchtlinge, Europas Grenzanlagen entern zu wollen?
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