Waffenruhe in Ostukraine: Separatisten: Osten des Landes bleibt Teil der Ukraine
Die OSZE hat das Protokoll der vereinbarten Waffenruhe in der Ukraine veröffentlicht, lesen Sie es hier in einer Tagesspiegel-Übersetzung im Wortlaut. Die Separatisten verzichten demnach auf ein unabhängiges "Neurussland".
Die in Minsk vereinbarte Waffenruhe zwischen der Ukraine und den Separatisten im Osten des Landes hatte nicht nur Erleichterung, sondern auch Unbehagen ausgelöst. Es war zunächst unklar geblieben, was genau die Konfliktparteien ausgehandelt hatten, da der Wortlaut unter Verschluss geblieben war. Am Sonntagmorgen hat die OSZE das Dokument auf ihrer Seite ins Netz gestellt - zunächst nur auf Russisch - und das hat es in sich. So treten die Separatisten, die zuletzt mit russischer Hilfe große militärische Erfolge verzeichnet haben, von ihrem Plan eines unabhängigen Staates "Neurussland" zurück. Im dritten Punkt der Vereinbarung ist von einer "Dezentralisierung der Macht" und einem noch auszuarbeitenden "Gesetz über einen Sonderstatus" der Ostukraine die Rede. Sobald dieses Gesetz verabschiedet worden ist, sollen im Osten des Landes schnellstmöglich Regionalwahlen abgehalten werden. Die Vereinbarung muss noch vom ukrainischen Parlament ratifiziert werden.
Lesen Sie hier, was die Kontaktgruppe in Minsk genau ausgehandelt hat:
1. Eine sofortige beiderseitige Waffenruhe
2. Ein Monitoring und eine Verifizierung der Waffenruhe durch die OSZE
3. Eine Dezentralisierung der Macht, unter anderem durch die Verabschiedung eines Gesetztes der Ukraine "Über die zeitweise Ordnung der lokalen Selbstverwaltung in verschiedenen Gebieten der Regionen Donezk und Luhansk" (Gesetz über einen Sonderstatus)
4. Ein ständiges Monitoring der russisch-ukrainischen Grenze durch die OSZE sowie die Errichtung einer Sicherheitszone im Grenzgebiet der Ukraine und der Russischen Föderation
5. Befreiung aller Geiseln und widerrechtlich festgehaltener Personen
6. Die Verabschiedung eines Gesetzes, dass die rechtliche Verfolgung von Personen im Zusammenhang mit Ereignissen verbietet, die in verschiedenen Gebieten der Regionen Donezk und Luhansk stattgefunden haben
7. Die Fortsetzung eines nationalen Dialogs
8. Die Verbesserung der humanitären Situation im Donbass
9. Die Durchführung vorgezogener Lokalwahlen in Übereinstimmung mit dem Gesetz über "Über die zeitweise Ordnung der lokalen Selbstverwaltung in verschiedenen Gebieten der Regionen Donezk und Luhansk" (Gesetz über einen Sonderstatus)
10. Alle illegalen Truppenverbände und Söldner sowie ihr Kriegsgerät verlassen das Territorium der Ukraine
11. Die Verabschiedung eines Programms zur wirtschaftlichen Widergeburt des Donbass
12. Sicherheitsgarantien für die Teilnehmer der Konsultationen
Unterschrieben ist das Dokument von der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini, der frühere Präsident der Ukraine, Leonid Kutschma, der russische Botschafter in der Ukraine, Michail Zurabov, sowie die beiden Separatistenführer Alexander Sachartschenko und Igor Plotnizki.
Auch am Sonntag bleibt die Waffenruhe im Osten der Ukraine brüchig
Die in der Vereinbarung ebenfalls festgehaltene Waffenruhe wurde derweil auch am Sonntag gebrochen. Bei Kämpfen in der südostukrainischen Hafenstadt Mariupol ist trotz einer Waffenruhe eine Frau getötet worden. Das teilten örtliche Beamte am Sonntag mit. Es war das erste Todesopfer seit Inkrafttreten einer Waffenruhe für die Ostukraine am Freitag, die sich allerdings als brüchig erweist.
Die Separatisten in der Ostukraine hatten zuvor den Regierungseinheiten erneut einen Verstoß gegen die vereinbarte Feuerpause vorgeworfen. Stellungen nahe Mariupol seien unter Feuer genommen worden, teilten die Aufständischen am späten Samstagabend mit. Bewohner der strategisch wichtigen Hafenstadt am Asowschen Meer berichteten örtlichen Medien zufolge von Schüssen und Detonationen.
Details waren zunächst nicht bekannt. Die prowestliche Führung in Kiew hatte betont, die Waffenruhe einzuhalten. Auch Kremlchef Wladimir Putin und der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hatten bei einem Telefonat insgesamt eine Besserung der Lage festgestellt.
Die prorussischen Aufständischen begannen der Regierung zufolge am Samstag mit der Freilassung von Gefangenen. Mehrere Soldaten seien in der Nähe der Separatistenhochburg Lugansk übergeben worden, sagte Poroschenkos Sprecher Swjatoslaw Zegolko in der Hauptstadt Kiew.
Die prowestliche Führung der Ex-Sowjetrepublik will ihrerseits vermutlich an diesem Montag erste Gefangene freilassen. Die Aufständischen haben Schätzungen zufolge etwa 1000 Soldaten in ihrer Hand, die Regierungstruppen demnach etwa 200 moskautreue Kämpfer.
Die Feuerpause ist nach Einschätzung des Roten Kreuzes noch nicht völlig stabil. Die Organisation habe am Morgen Lastwagen mit humanitärer Hilfe in die Separatistenhochburg Lugansk geschickt, wegen Granateneinschlags hätten die Fahrzeuge aber umdrehen müssen, teilte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) per Twitter mit.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ruft zur Einhaltung der Waffenruhe auf
Das IKRK rief die Konfliktparteien zur strikten Einhaltung der Waffenruhe auf. „Hilfe ist sehr nötig in der Ostukraine. Wir müssen sie in Sicherheit liefern können, sobald wie möglich“, hieß es.
Zehntausende Einwohner von Lugansk müssen seit einem Monat ohne fließendes Wasser auskommen. Bei monatelangen Kämpfen in der Ostukraine waren etwa 3000 Menschen getötet worden.
Russland kündigte für den Fall neuer EU-Strafmaßnahmen eine Reaktion an. „Sollte die neue Liste der Sanktionen der Europäischen Union in Kraft treten, wird es zweifellos eine Reaktion von unserer Seite geben“, warnte das Außenministerium. Die EU sende mit der Drohung ein Signal der Unterstützung für die „Kriegstreiber“ in Kiew.
Der Westen wirft der Regierung in Moskau vor, die Aufständischen in der Ostukraine zu unterstützen. Die Botschafter der 28 EU-Mitgliedsländer hatten sich am späten Freitagabend in Brüssel auf ein neues Sanktionspaket geeinigt. Moskau hat seinerseits einen Importstopp für einige EU-Waren verhängt und zuletzt ein Überflugverbot für ausländische Fluglinien erwogen.
Als Konsequenz aus der Krise setzt die Nato erstmals seit Ende des Kalten Krieges wieder auf das Prinzip Abschreckung. Die 28 Nato-Staats- und Regierungschefs beschlossen auf ihrem Gipfel den sogenannten Readyness Action Plan (sinngemäß Plan für höhere Bereitschaft). Er soll die Sicherheit der Partner in Ost- und Mitteleuropa stärken, die sich von Russland bedroht fühlen.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International warf den Konfliktparteien schwere Verstöße vor. „Alle Seiten in diesem Konflikt haben Missachtung für das Leben von Zivilisten gezeigt und verletzen eklatant ihre internationalen Verpflichtungen“, teilte Generalsekretär Salil Shetty mit. Amnesty-Helfer hätten in der Ostukraine Fälle von willkürlichem Beschuss, Entführungen und Morde dokumentiert. Die Verbrechen würden sowohl von prorussischen Separatisten als auch von Milizen aufseiten der Regierung begangen. Die Regierung in Kiew müsse die Täter zur Rechenschaft ziehen. (mit dpa)