Gesundheitsminister Jens Spahn: Sein Konzept ist der Tabubruch
Mit frechen Vorstößen schreckt Gesundheitsminister Jens Spahn die Funktionäre auf. Seine Provokationen sind genau kalkuliert. Ein Kommentar.
Wer die Vorstöße des Gesundheitsministers in den vergangenen Monaten betrachtet, kann nur zu einem Befund gelangen: Jens Spahn hat die Schnauze voll. Von den Behäbigkeiten des Systems, den quälend langen Verfahrensabläufen, dem gegenseitigen Ausbremsen der Akteure bei dringend nötigen Verbesserungen. Jüngstes Beispiel: die seit Jahren diskutierte Frage, ob die Krankenkassen schwerstkranken Lipödem-Patientinnen eine Fettabsaugung bezahlen müssen. Vor 2024 war, nach aktuellem Stand, keine Entscheidung zu erwarten.
Natürlich haben die Kritiker Recht
Um Betroffenen „schnell und unbürokratisch“ zu helfen, ergänzte der CDU-Politiker sein „Terminservice- und Versorgungsgesetz“ kurzerhand um eine kleine Passage. Sie würde es ihm ermöglichen, künftig auch eigenmächtig über Kassenleistungen zu entscheiden. Bisher hat darüber allein die Selbstverwaltung zu befinden - mit ihrem dafür zuständigen Gremium, dem Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA). Und wenn es noch so lange dauert.
Der Widerstand gegen Spahns freche Selbstermächtigung war erwartbar. GBA-Chef Josef Hecken nennt sie einen kompletten „Systembruch“, warnt vor dem Abmarsch in Richtung Staatsmedizin. Dadurch könnten „Behandlungsmethoden, deren Nutzen und Schaden völlig ungeklärt sind, nach Belieben und politischer Opportunität in die gesetzliche Krankenversicherung gelangen“. Und natürlich haben die Kritiker recht. Nur weil ein Minister eine Therapie hilfreich findet, muss sie das noch lange nicht sein. Auch ein verbreiteter Patienten- oder Ärztewunsch bietet dafür keine Gewähr. Für eine verlässliche Nutzen- und Risikoabschätzung bedarf es unabhängiger Expertise.
Spahn will Verkrustungen aufbrechen - und bei den Bürgern punkten
Spahn ist zu sehr Gesundheitsexperte, um nicht zu wissen, wann er überreißt. Doch Gegenwind und mögliches Scheitern scheinen ihm egal, er nimmt beides kraftstrotzend in Kauf. Der Minister will Verkrustungen aufbrechen, den Funktionären Beine macht - und damit bei den Bürgern punkten.
Dass er sich den Sozialwissenschaftler und Populismus-Experten Timo Lochocki ins Ministerium geholt hat, belegt die Zielrichtung. Mit Populär-Dirigismus testet Spahn die Grenzen aus. Und knöpft sich alle vor: Praxisärzte, die er zu mehr Sprechstunden für Kassenpatienten verdonnert. Kliniken, denen er Mindestquoten fürs Pflegepersonal verordnet. Psychotherapeuten, denen er vorgeben will, wem sie sich angesichts überlanger Wartezeiten vorrangig zu widmen haben. Alles Dinge, die einen Minister eigentlich nichts angehen, die das Selbstverwaltungssystem allein hinbekommen sollte. Alles aber auch ärgerliche Dauerbaustellen, bei denen man Spahns Ungeduld verstehen kann.
Ärger und Teilrückzieher sind erwartbar. Na und?
Ob sein Konzept der robusten Einmischung aufgeht? Im besten Fall führt es zu Reformen eines in Teilen viel zu schwerfällig gewordenen Systems. Im schlechtesten zum Aufstand der Gesundheitsakteure, der alles lähmt. Und im erwartbaren dazu, dass es Teilrückzieher und ordentlich Ärger gibt, durch den sich aber an entscheidenden Stellen manches zurechtruckelt. Es wäre nicht das Schlechteste für die Patienten. Und auch nicht für das Image eines Politikers, der längst über seinen Ministerposten hinausdenkt.