Albanien nach der Wahl: Sehnsuchtsort Deutschland
Kaum Jobs, kaum Perspektive: Viele Albaner wollen auswandern - in Deutschland aber erhalten sie kein Bleiberecht. Eine Berufsschule nahe Tirana soll helfen, die Jugend in der Heimat zu halten.
Ein Ticket für den Bus wäre ihm am liebsten. Bloß nicht im Flugzeug zurück, sagt der Vater, davor hat er Angst. Das mit dem Bus, sagt die Sachbearbeiterin freundlich, ist notiert – kann sie noch was tun? Stille. Wenn so weit alles ok ist, sagt sie, leitet sie die Ausreise in die Wege.
Vater und Mutter nehmen die acht und neun Jahre alten Töchter an die Hand, laufen durch den langen Flur des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten in Berlin-Wilmersdorf, als eines der Mädchen in akzentfreiem Deutsch sagt: „Schade, Berlin ist schön, sehr schön.“
Familie Dushi fährt an diesem Sommertag zu ihrer Asylbewerberunterkunft nach Berlin-Lichtenberg. Dort ziehen sie bald aus. In der Statistik werden sie als vier freiwillige Rückkehrer vermerkt, Asylbewerber, die Deutschland verlassen. Den Versuch, in Berlin zu bleiben, sagt der Vater, war es trotzdem wert. „Zu Hause brauchte uns niemand.“ Die Familie lebte in Zentralalbanien, in einem Häuschen, das sie vor der Reise nach Berlin verkaufte. Auf dem Land gab es kaum Arbeit. Nun wollen sie in eine Stadt – und schlafen bei Verwandten.
In Albanien war gerade Wahl. Die alte Regierung um die vorgeblich sozialistische Partei von Edi Rama ist auch die neue. Wobei die Macht, sagen Beobachter sowohl aus Berlin als auch Tirana, oft kriminelle Kartelle haben. Die Wahlbeteiligung lag bei gerade mal 46 Prozent, ein Tiefstand.
30 Prozent der Albaner leben im Ausland
Auch 27 Jahre nach dem Sturz der Stalinisten trauen die Albaner ihren Eliten nicht. Der Durchschnittslohn liegt bei weniger als 350 Euro im Monat. Von den 4,1 Millionen Albanern leben 1,2 Millionen im Ausland. Fast die Hälfte der Heranwachsenden ist arbeitslos. Umfragen zufolge will sogar mehr als die Hälfte der Bevölkerung auswandern.
Vater Dushi war Tischler, die Mutter half in Büros und Gaststätten. Beide bekamen immer seltener Jobs. Vor zwei Jahren reisten die Dushis wie Tausende Albaner nach Berlin. Damals, im Sommer 2015, kamen so viele Menschen in der Bundesrepublik an wie nie zuvor.
Das zuständige Landesamt für Gesundheit und Soziales war völlig überlastet, es kamen bis zu 1000 Menschen pro Tag. Die meisten Neuankömmlinge waren vor den Kämpfen in Syrien, Irak, Afghanistan geflohen – oder vor der Perspektivlosigkeit auf dem Balkan.
Rund 54 000 Albaner stellten im Jahr 2015 einen Asylantrag in Deutschland. Albanien wurde von der Bundesregierung zügig als sicheres Herkunftsland eingestuft. Die deutsche Botschaft in Tirana erklärte albanischen Journalisten und Politikern über Monate, dass die Chance auf Anerkennung als Flüchtling für Albaner bei nahezu null liegt. Trotzdem stellen 2016 weitere 16 000 Albaner einen Asylantrag.
"Magnet Deutschland"
„Deutschland wirkt auf die Menschen in dieser Region wie ein Magnet“, sagt Hans-Jürgen Cassens, Leiter der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Tirana. Schon der Nationaldichter Naim Frashëri schrieb im muslimisch-orientalischen Albanien des 19. Jahrhunderts mit Blick auf Europas Westen: „Komm, du gesegneter Tag, der du aus dem Westen brichst.“ Nicht nur in Deutschland wurden viele, die den gesegneten Tag erleben wollten, enttäuscht. Selten werden sie abgeschoben, jedoch sind 17 000 Albaner allein 2016 freiwillig aus Deutschland ausgereist. Die Ämter bezahlen die Reise.
„Die meisten Albaner hätten gern in Deutschland gearbeitet“, sagt Hannelore Thoelldte. „Sie haben zwar Asylanträge gestellt, würden aber lieber sofort in einer Werkstatt anfangen.“ Thoelldte organisiert im Flüchtlingsamt die Rückkehrberatung. Die Dushis sind da typisch – strebsam, aber mit naiven Vorstellungen.
Nach Deutschland hatte sich auch Endri Hametaj aufgemacht. Er sitzt mit 20 Jungen und Mädchen in einer Klasse der Berufsschule in Kamza, nördlich von Tirana. „Oh, Sie kommen aus Berlin“, sagt Hametaj in weichem Deutsch. „Gern möchte ich Deutsch sprechen. Ok?“
Und der 17-Jährige erzählt. Davon, dass seine Familie in Vlora lebte, einer Hafenstadt in Südalbanien. Dass sein Vater als Trucker kaum Jobs bekam, seine Mutter erwerbslos war und die großen Geschwister selten Arbeit fanden. Und dass auch die Hametajs im Sommer 2015 nach Deutschland aufbrachen.
„Deutschland ist super“, sagt Hametaj. Sechs Monate lebte die Familie in Sangerhausen in Sachsen-Anhalt. Als der Asylantrag abgelehnt wurde, entschied der Vater: Besser gleich zurück als später unter Druck. Damit sein Junge in Albanien eine Chance hat, bemühte sich der Vater um einen Platz in der Berufsschule in Kamza. Sein Sohn möchte dort Programmieren lernen. „Das ist die beste Schule“, sagt Hametaj, „im ganzen Land.“
Noch vor ein paar Jahren galt Kamza als Problemstadt. Viele der 150 000 Einwohner stammen aus der bergigen Provinz, blieben auf dem Weg nach Tirana in der Stadt hängen, bauten Hütten in den staubigen Straßen, kamen nicht weg. Neben Armut brachten sie Blutrache mit, eine mittelalterliche Tradition, die durch die Rückkehrer aus Deutschland, Italien, der Schweiz, die sich nun in Kamza niederlassen, an Einfluss verliert.
In der Schule gibt es Klassen für IT, Landwirtschaft, Pflege, Gastronomie und Automechanik. Auch die Bundesregierung unterstützt die Einrichtung, es ist Albaniens größte Berufsschule. Die GIZ hat in die Schulküche und Computer investiert und den Pressebesuch in Albanien organisiert. Bald könnte die Förderbank KfW vor Ort neue Werkstätten bezahlen. Nicht nur in Albanien, auch in anderen Balkanstaaten baute die GIZ Büros auf, in denen Berater den Besuchern erklären, dass sie kaum Chancen auf Asyl in Deutschland haben, dass jedoch bestimmte Berufe gesucht werden. Einige wenige bekommen so eine Arbeitserlaubnis.
Modell deutsche Berufsschulen
"Die Ausbildung an den Schulen orientiert sich nicht an den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts“, sagt Ergis Papaproko, Direktor der Schule in Kamza. „Selbst die Berufsgymnasien sind zu theoretisch orientiert.“ Ausgebildete Elektriker und Mechaniker – die in Deutschland gesucht werden – sind selten. Die GIZ-Experten wollen die Abstimmung zwischen Schulen und Firmen verbessern. Noch sind strategische Pläne in der Arbeitswelt so schwach ausgeprägt wie Albaniens Zivilgesellschaft.
Offene Debatten darüber, wie das Land aussehen sollte, gibt es kaum. In Kamza orientiert man sich an deutschen Berufsschulen. An Baufirmen, Hotels, Werkstätten vermitteln die Lehrer nun Praktikanten. Knapp 400 Schüler gab es 2012, inzwischen sind es 1600.
In der zweiten Stunde steht Sabrina Allmeta an einem riesigen Gasherd und schwenkt eine Pfanne, darin eine Dorade. Allmeta, 19 Jahre, geht tagsüber in die Schule in Kamza und arbeitet abends in einem Restaurant in Tirana.
„Ich möchte nicht nach Deutschland gehen“, sagt Sabrina Allmeta. „Hier habe ich Familie und Arbeit. Wieso ...“ – eine Stichflamme schießt aus der Pfanne. Allmeta hat zu viel Wein auf die Dorade gekippt, die Schülerin zieht die Pfanne vom Herd, pustet die Flamme aus. „Man muss üben“, sagt sie. „Immer üben.“ Auch Allmetas Geschwister waren 2015 nach Deutschland gefahren. Jetzt sind sie zurück.
EU-Diplomaten sagten mit Blick auf die Parlamentswahl anonym, allerdings recht deutlich: Albanien ist kein Sozialismus, der Staat versorgt die Massen nicht. Albanien ist auch keine Marktwirtschaft, es fehlen Vertragssicherheit und Transparenz. Albanien besteht aus Beutegemeinschaften.
Und nun? Die Dushis suchen Arbeit. Die Töchter sollen weiter Deutsch lernen, auch das kostet. Endri Hametaj mit dem höflichen Deutsch will nach dem Abschluss wieder nach Deutschland. Nicht als Asylbewerber, sondern als Informatiker. Sabrina Allmeta ist in diesem Herbst mit ihrer Ausbildung fertig. Gut geschulte Köche sind noch selten, sie dürfte einen Job bekommen – ihr Bruder und ihre Schwester sind wieder arbeitslos.
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