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Jugend ohne Zukunft? Schon 2011 demonstrierten Spaniens Junge gegen Arbeitslosigkeit. Heute ist es nicht besser.
© picture alliance / dpa

Reicher Norden, armer Süden: Die Kluft in Europa wächst

Arbeitslosigkeit im Süden, Vollbeschäftigung im Norden: Die Wirtschaft in Europa entwickelt sich auseinander. Ökonomen halten das für gefährlich.

Geregelte Arbeitszeiten. Ein Gehalt, das zum Leben reicht. Eine Perspektive. All das hatte Ivan Fernandez Molina in seinem Heimatland nicht. „Die Situation in Spanien ist schwierig“, sagt er. Gerade für junge Menschen wie ihn. 600 Euro brutto hat der 26-Jährige in Spanien zuletzt verdient – als ausgebildeter Elektriker in Vollzeit. Eine Festanstellung hatte er nicht. Zwei, drei Monate, länger stellten die Firmen ihn nicht ein. Waren die Arbeiten auf der einen Baustelle erledigt, musste er gehen, begann die Jobsuche von Neuem.

Umso glücklicher ist Molina nun, in Berlin zu sein. Hier will er bleiben, hier sieht er seine Zukunft. Seit anderthalb Jahren macht er in einem kleinen Sanitärbetrieb im Norden Berlins eine Ausbildung zum Anlagenmechaniker. Sein Chef ist mit ihm zufrieden, auch in der Berufsschule kommt er trotz Fremdsprache gut mit. Womöglich kann er seine Ausbildung sogar verkürzen. Dafür will Olaf Rathmann, dem der Sanitärbetrieb gehört, sich einsetzen. Wenn alles läuft wie geplant, übernimmt er den Spanier nach Ende der Ausbildung.

Bei über 48 Prozent liegt die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien

Molina hat Glück gehabt. Anders als viele Spanier in seinem Alter. Bei über 48 Prozent liegt die Jugendarbeitslosigkeit in seinem Heimatland. Mit anderen Worten: Fast jeder Zweite der unter 25-Jährigen sucht in Spanien vergeblich einen Job. Unter den 25- bis 29-Jährigen ist jeder Dritte arbeitslos. Und zwar immer noch. Während sich die Wirtschaft in Deutschland längst von der Krise erholt hat, sind Staaten wie Spanien, Griechenland oder Italien von Normalität weit entfernt.

Zwar wächst die Wirtschaft durchaus auch im Süden Europas: In Spanien legte das Bruttoinlandsprodukt zuletzt sogar um stolze drei Prozent zu. Doch der Aufschwung kommt bei den Menschen nicht an. Die Arbeitslosigkeit liegt in Spanien über alle Altersgruppen hinweg noch immer bei 19 Prozent. Wenn neue Jobs entstehen, dann sind sie meist schlecht bezahlt. Viele Spanier stehen vor der Wahl: keine oder prekäre Beschäftigung. Zwar gibt es auch in Spanien einen Mindestlohn, doch der liegt unter vier Euro – in Deutschland ist er mehr als doppelt so hoch. Erst kürzlich sind deshalb wieder Zehntausende in Madrid auf die Straße gegangen und haben gegen die Sparpolitik der spanischen Regierung protestiert. Gewerkschaften warnen vor einer sozialen Spaltung des Landes.

Hierzulande gibt es so viele Jobs, dass jeder Arbeitswillige eine Stelle finden könnte

Dabei zieht sich diese Kluft längst nicht nur durch einzelne Länder wie Spanien sondern durch ganz Europa. Arbeit, Einkommen und Wohlstand sind in der Staatengemeinschaft sehr ungleich verteilt – heute noch viel mehr als früher. Auf der einen Seite sind da die Südstaaten wie Spanien, Italien und Griechenland, die aus der Krise nicht herauskommen. Auch viele Länder im Osten Europas tun sich immer noch schwer damit, den Lebensstandard zu steigern. Auf der anderen Seite stehen Länder wie Deutschland, die Niederlande oder Dänemark, in denen die Wirtschaft wächst, mehr Menschen einen Job finden. In Deutschland sprechen manche Volkswirte inzwischen sogar schon von Vollbeschäftigung. Das heißt: Es gibt hierzulande so viele Jobs, dass zumindest theoretisch jeder Arbeitswillige eine Stelle finden könnte.

Entsprechend trügerisch ist es, wenn man rein auf die Durchschnittswerte der Staatengemeinschaft schaut: Auf 8,5 Prozent ist die Arbeitslosigkeit im EU-Schnitt zuletzt gefallen – die Wirtschaft der EU soll Prognosen zufolge in diesem Jahr um 1,6 Prozent wachsen. Das klingt gut, doch die Daten der Einzelstaaten gehen weit auseinander. Die Arbeitslosigkeit schwankt zwischen dem niedrigsten Wert von 3,8 Prozent in Tschechien und dem höchsten von 23 Prozent in Griechenland. In Lettland wächst die Wirtschaft nur um 0,3 Prozent Prozent, während sie in Irland um fast sieben Prozent zulegt.

Das Dilemma des Südens: Ineffiziente Verwaltung, hohe Korruption

Jugend ohne Zukunft? Schon 2011 demonstrierten Spaniens Junge gegen Arbeitslosigkeit. Heute ist es nicht besser.
Jugend ohne Zukunft? Schon 2011 demonstrierten Spaniens Junge gegen Arbeitslosigkeit. Heute ist es nicht besser.
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Diese großen Unterschiede wirken sich auch auf die Lebensqualität aus. Das zeigt eine Studie der Europäischen Kommission, die 30.000 Europäer danach befragt hat, wie sie den Lebensstandard in ihrem Land bewerten. Das Ergebnis: Während in Dänemark fast alle Befragten (96 Prozent) angaben, zufrieden zu sein, waren es in Bulgarien nur 35 Prozent. Auch Deutsche, Belgier, Finnen und Iren sind glücklich, während Italiener, Portugiesen, Griechen und Spanier über den niedrigen Lebensstandard in ihrem Land klagen. Zwar gab es diese Ungleichgewichte in Europa auch schon vor der Finanzkrise. Seitdem haben sie sich allerdings deutlich verschärft: Während Deutschlands Wirtschaftsleistung heute sechs Prozent höher ausfällt als vor Ausbruch der Finanzkrise, liegt Griechenland noch 26 Prozent unter dem Vorkrisenniveau. Auch Belgien, Irland und Frankreich stehen besser da als 2008, während Italien, Portugal, Zypern und Finnland hinterherhinken.

„Die Verschleppung der Probleme gefährdet das europäische Projekt“

Das Dilemma: Gerade im Süden Europas bestehen viele, eigentlich bekannte Probleme fort: eine ineffiziente Verwaltung, hohe Korruption und die geringe Wettbewerbsfähigkeit. Zwar haben die Staaten im Süden Europas durchaus Reformen eingeleitet, Ökonomen halten die aber immer noch nicht für ausreichend. Der deutsche Sachverständigenrat schreibt gar: „Die Verschleppung der Probleme gefährdet das europäische Projekt.“ Ohne Reformen fürchten die Ökonomen Rückschläge bei der europäischen Integration. So erklären sie auch das Erstarken europakritischer Parteien mit den ausbleibenden Reformen und der wachsenden Kluft zwischen den Staaten. Ein Problem, das die Krisenländer nicht in den Griff bekommen, ist die niedrige Arbeitsproduktivität.

Das heißt: In einer Stunde können die Unternehmen im Süden Europas sehr viel weniger produzieren als Firmen in anderen Ländern. In Italien zum Beispiel stagniert die Arbeitsproduktivität bereits seit 15 Jahren. In Griechenland ist sie seit Ausbruch der Finanzkrise sogar weiter gefallen. Problematisch ist das, weil ein Land mit niedriger Arbeitsproduktivität kaum wettbewerbsfähig ist. Denn: Wer länger für die Herstellung eines Produkts braucht als andere, muss dafür entweder höhere Preise verlangen oder er macht Verluste. Wie groß das Problem ist, zeigt die Rangliste, die das World Economic Forum jährlich erstellt.

In Punkto Wettbewerbsfähigkeit liegt Griechenland dabei inzwischen weit abgeschlagen auf Platz 86 noch hinter Bulgarien, Albanien und Lettland. International sind selbst die Firmen in Botswana, in Namibia oder im Iran mittlerweile wettbewerbsfähiger als die griechischen Unternehmen. Das World Economic Forum begründet das unter anderem mit übermäßig vielen unnötigen Staatsausgaben, zu hoher Regulierung, zu hohen Steuern und der zu geringen Kreditvergabe der Banken in Griechenland.

Trotz Job können die Menschen immer weniger leisten

All das bereitet nicht nur den Unternehmen Probleme. Eine geringe Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsproduktivität hat auch einen direkten Einfluss auf den Wohlstand im Land. Nur wenn es Unternehmen gelingt, effizienter zu werden, mehr zu produzieren, können sie es sich leisten, neue Mitarbeiter einzustellen und höhere Löhne zu zahlen. Bleibt das aus, können sich die Menschen trotz Job immer weniger leisten. Entsprechend steigt die Armut. Und je länger die Krise im Süden Europas anhält, desto schlimmer wird das Problem. Konnten die Menschen anfangs noch von ihren Ersparnissen leben, sind die in vielen Familien längst aufgebraucht. Vor allem in Griechenland ist das der Fall. 40 Prozent der Kinder wachsen dort bereits in Armut auf. Auch jungen Erwachsenen geht es nicht viel besser. Unter ihnen ist die Arbeitslosigkeit in den Krisenstaaten besonders groß. Trotz abgeschlossener Ausbildung oder Hochschulabschluss finden viele keinen Job.

Das ist insofern dramatisch, als dass damit auch ihre Chancen für die Zukunft sinken. Wer keine Berufserfahrung sammeln kann, wird auch dann Schwierigkeiten bei der Jobsuche haben, wenn es der Wirtschaft wieder besser geht, die Firmen wieder einstellen.

Dass gerade unter den Jungen die Arbeitslosigkeit so hoch ist, liegt nach Angaben des Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) aber nicht nur an der Krise sondern auch an Defiziten im Bildungssystem. So finden Jugendliche leichter einen Job in Ländern, in denen sie nicht nur theoretisch unterrichtet werden, sondern früh Erfahrung in Unternehmen sammeln. Neben Deutschland mit seiner dualen Ausbildung ist das zum Beispiel in Dänemark und den Niederlanden der Fall. In diesen Ländern drücken über ein Drittel der jungen Menschen nicht nur die Schulbank, sondern arbeiten parallel bereits in einer Firma. In den Ländern mit besonders hoher Jugendarbeitslosigkeit kommt solch eine praxisbezogene Ausbildung dagegen nur weniger als fünf Prozent der unter 29-Jährigen zu gute.

In Deutschland sind Azubis die meiste Zeit in der Firma, nicht in der Schule

Auch Ivan Fernandez Molina sieht das kritisch. Der Spanier hat den direkten Vergleich: In seiner Heimat ist er zum Elektriker ausgebildet worden, in Berlin erlernt er nun den Beruf des Anlagenmechanikers. „In Spanien besucht man während der Ausbildung zwei Jahre lang die Schule und macht drei Monate Praktikum“, sagt er. Danach wisse man zwar, wie etwas theoretisch funktioniert – aber nicht praktisch. Wer nach der Ausbildung in einer Firma anfängt, müsse trotz Abschluss neu angelernt werden. In Berlin verbringt Molina dagegen die meiste Zeit in der Firma, lernt auf der Baustelle, wie man ein Rohr richtig verlegt. Oder was man tut, wenn das Bad so klein ist, dass die Textbuchlösung nicht funktioniert.

Nach Deutschland gekommen ist Molina über ein Förderprogramm des Bundes namens Mobipro, das in der Hauptstadt vom Bildungswerk der Wirtschaft in Berlin und Brandenburg (bbw) durchgeführt wird. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat es ins Leben gerufen, um mehr junge Menschen aus dem europäischen Ausland als Azubis nach Deutschland zu holen – vor allem aus Spanien und Italien. Sie sollen dadurch die Chance für einen erfolgreichen Berufseinstieg bekommen. Gleichzeitig soll so deutschen Firmen geholfen werden, die Schwierigkeiten haben Auszubildende zu finden. Erst im vergangenen Jahr hat Nahles die Förderung von 139 Millionen auf 550 Millionen Euro aufgestockt. Finanziert werden aus diesen Mitteln zum Beispiel Sprachkurse und Reisekosten der Azubis. Der Plan, die jungen Menschen hier zu integrieren, geht jedoch nicht immer auf. Von 56 Nachwuchskräften, die in den letzten zwei Jahren über das Programm nach Berlin gekommen sind, sind sechs wieder in ihre Heimat zurückgekehrt.

Ivan Fernandez Molina hingegen will in Berlin bleiben. „Die Arbeit hier macht fast immer Spaß“, sagt er. „Auf meine Kollegen kann ich mich verlassen und es gibt geregelte Arbeitszeiten.“ Keine unbezahlten Überstunden mehr wie daheim.

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