Atommüll: Seehofer schließt Endlager in Bayern nicht mehr aus
Nachts haben Union und FDP ihren Fahrplan für den Atomausstieg festgelegt, am Morgen gibt es die nächste Wende. CSU-Chef Seehofer will deutschlandweit ein Atommüll-Endlager suchen. Bisher galt Gorleben als schwarz-gelber Favorit.
Die Diskussionen um den Atom-Ausstieg könnte auch die Debatte um Endlager für radioaktiven Müll neu anfachen. Denn CSU-Chef Horst Seehofer hat sich überraschend für einen Neustart bei der Suche nach einem Endlager für hoch radioaktiven Atommüll ausgesprochen. Er sagte am Montag in Berlin, alle geologischen Aspekte sollten noch einmal neu auf den Prüfstand gestellt werden. "Wir müssen erstmal Deutschland ausleuchten", sagte er. Bisher sperrt sich Bayern gegen eine bundesweite Suche nach Alternativen zum Salzstock Gorleben in Niedersachsen. SPD und Grüne zweifeln seit langem an der Eignung Gorlebens. Auch die von der Regierung eingesetzte Ethikkommission hat empfohlen, mit dem Atomausstieg einen Neustart bei der Suche nach einem Endlager zu wagen. Es sollte eine rückholbare Lagerung unter schärfsten Sicherheitsvorkehrungen gemacht werden, sagte der Vorsitzende Klaus Töpfer am Montag in Berlin.
Über Gorleben hinaus sei es daher sinnvoll, weitere Standorte zu prüfen, betonte der frühere Bundesumweltminister. Es ist umstritten, ob es in Gorleben möglich ist, den Atommüll bei Problemen notfalls zurückholen zu können. Bisher setzen Union und FDP auf eine Erkundung des Salzstocks in Gorleben. SPD und Grüne fordern eine bundesweite Suche. Die Atomindustrie hat in die seit 1977 laufende Gorleben-Erkundung rund 1,5 Milliarden Euro investiert. Es gibt Zweifel, ob der Salzstock sicher genug ist, um hoch radioaktiven Müll dauerhaft in mehr als 800 Metern Tiefe zu lagern.
Das Vorhaben der schwarz-gelben Bundesregierung, ein älteres Atomkraftwerk im "Stand-by-Betrieb" weiterhin in Bereitschaft zu halten, lehnt die Ethikkommission ab. "Wir haben das nicht vorgeschlagen, wir halten das für nicht empfehlenswert", sagte der Kommissionsvorsitzende Klaus Töpfer am Montag in Berlin. Zuvor hatten er und der Ko-Vorsitzende Matthias Kleiner den Abschlussbericht des Gremiums an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) übergeben. Darin wird neben einem Atomausstieg innerhalb von zehn Jahren auch ein grundlegender Umbau der Energieversorgung hin zu erneuerbaren Energien vorgeschlagen.
Töpfer machte deutlich, dass das von der Koalition in der Nacht zu Montag beschlossene Ausstiegsdatum 2022 nicht den Empfehlungen der Kommission entspreche, weil es über den Zeitraum eines Jahrzehnts hinausgehe: "In unserer Empfehlung ist das exakt nicht enthalten." Töpfer riet aber zugleich in diesem Punkt zur Gelassenheit. Es werde besonders international niemand verstehen, "wenn wir uns jetzt wegen sechs Monaten die Köpfe einschlagen". Allerdings sei die Ethikkommission der Auffassung, dass "der Ausstieg auch früher gelingen" könne. Abstriche beim Klimaschutz dürfe es wegen des Atomausstiegs nicht geben. Sollte es Probleme etwa beim Ausbau erneuerbarer Energien geben, dürfte dies nicht zu längeren Akw-Laufzeiten führen, sondern "dann muss gegengesteuert werden".
Die acht älteren Atomkraftwerke - inklusive Krümmel - blieben vom Netz, sagte Umweltminister Norbert Röttgen am frühen Montagmorgen nach einer nächtlichen Koalitionsrunde im Berliner Kanzleramt. Sechs weitere Meiler sollten bis spätestens 2021 vom Netz gehen, die drei neuesten AKW dann 2022. Die Regelung entspreche insgesamt einer Restlaufzeit von 32 Jahren, die in der nächsten Dekade noch genutzt werden könnten. "Aber definitiv: Das späteste Ende für die letzten drei Atomkraftwerke ist dann 2022“, betonte Röttgen.
Außerdem bestätigte der Umweltminister, dass die umstrittene Brennelementesteuer nicht abgeschafft wird. Die bis 2016 geltende Abgabe wurde geschaffen, um jährlich 2,3 Milliarden Euro in den Bundeshaushalt zu spülen. Ihr Ertrag wird aber ohnehin dadurch geschmälert, dass die meisten der im Zuge des Moratoriums abgeschalteten sieben Alt-Meiler endgültig vom Netz bleiben und die Steuer nur auf neue Brennstäbe erhoben wird.
Zu der Koalitionsrunde von Union und FDP waren auch die Fachminister und die energie- und umweltpolitischen Sprecher der Regierungsfraktionen geladen. Zudem hatten die Spitzen von SPD und Grünen zeitweilig an dem Treffen im Kanzleramt teilgenommen. Die Regierung strebt einen möglichst großen Konsens für die angestrebte Energiewende an, bei dem sie die erst im vergangenen Herbst beschlossene Verlängerung der Laufzeiten deutscher Atomkraftwerke wieder zurücknimmt. Die Kurswende ist eine Reaktion auf die Atomkatastrophe im japanischen Fukushima. Und zumindest bei den Sozialdemokraten deutet sich eine Zustimmung an. Die Regierung kehre mit ihrem Plan für einen Atomausstieg bis spätestens 2022 weitgehend zum rot-grünen Ausstiegsbeschluss zurück, hieß nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur am Montag in Parteikreisen. Daher gebe es möglicherweise eine Zustimmung der SPD. SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte direkt nach dem Treffen, die Koalition bewege sich auf einen Atomausstieg nach den Empfehlungen der Ethikkommission zu.
Grüne und SPD kritisierten allerdings die Pläne der Koalition für das Vorhalten mehrere Atomkraftwerke als "kalte Reserve". Es sei wenig sinnvoll, dafür ausgerechnet Atomkraftwerke in Bereitschaft zu halten, sagte Gabriel. Grünen-Chefin Claudia Roth hat beim Fahrplan der Koalition für den Atomausstieg den fehlenden Fokus auf die erneuerbaren Energien kritisiert. Es sei richtig, dass der Ausstieg aus der Atomkraft "so schnell wie möglich passiert", sagte Roth am Montag im ZDF-"Morgenmagazin" nach der nächtlichen Einigung der Koalition auf ein Ende der Atomkraft bis spätestens 2022. Allerdings solle nun die Laufzeitverlängerung zurückgenommen werden, ohne beim Anteil erneuerbarer Energien aufzustocken. "Das heißt, es entsteht ein Mangel", sagte Roth. Damit drohe eine erhöhte Nutzung von Kohle, was schlecht für das Klima sei. "Man kann den Teufel Atomkraft nicht mit dem Beelzebub Kohle austreiben", sagte die Grünen-Chefin im ZDF. "Es geht nicht nur darum, wie steige ich aus der Atomkraft aus, sondern wie stark und wie schnell und wie ambitioniert steige ich in die erneuerbaren Energien ein", sagte Roth.
Die Umweltschutzorganisation Greenpeace bezeichnete einen Atomausstieg bis zum Jahr 2022 hingegen als „absolut inakzeptabel“ und warf Merkel Wortbruch vor. Der vom Koalitionsausschuss vereinbarte Ausstieg bis 2022 sei nicht der schnellstmögliche, den Merkel versprochen habe, erklärte Greenpeace-Atomexperte Tobias Münchmeyer am Montag in Hamburg. „Merkel hat ihr Wort gebrochen und nichts aus Fukushima gelernt“, bemängelte er.
Ein schnellstmöglicher Atomausstieg ist nach Auffassung von Greenpeace innerhalb von vier Jahren versorgungssicher möglich. Dafür seien fixe Abschaltdaten bis 2015 für jeden Atommeiler nötig. Nur so gebe es Investitionssicherheit und eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung.
Die deutsche Industrie warnt dagegen eindringlich vor einem irreversiblen Ausstieg aus der Kernenergie, vor höheren Strompreisen und kritischen Netzschwankungen. "Die deutlich erkennbare politische Absicht, in einem beispiellos beschleunigten Verfahren einen finalen und irreversiblen Schlusspunkt für die Nutzung von Kernenergie in diesem Land zu fixieren, erfüllt mich zunehmend mit Sorge", schrieb der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans-Peter Keitel, am Montag in einem Brief an die Spitzenvertreter der deutschen Wirtschaft. Keitel verlangte Alternativen, die Wirtschaft, Verbraucher und Klima nicht über Gebühr belasteten. Schon jetzt hätten Industrieunternehmen mit empfindlichen Maschinen durch kleinere Netzschwankungen im Millisekundenbereich stundenlange Produktionsausfälle, erklärte Keitel. Die zuverlässig gesicherte Stromversorgung rund um die Uhr gehöre zu den Stärken des Industriestandorts Deutschland. Wenn sie nicht mehr gewährleistet sei, schwäche das die Bundesrepublik als Industrieland.
Umweltminister Röttgen sagte weiter, dass der Ausstiegsprozess unumkehrbar sei. “Es wird keine Revisionsklausel geben“, sagte der CDU-Politiker mit Blick auf entsprechende Kritik der Opposition. Vorgesehen ist nun, dass ein Monitoringprozess die Fortschritte bei dem angestrebten Umstieg auf Erneuerbare Energien kontrollieren soll
Kriterien sollen dabei Bezahlbarkeit, Umweltverträglichkeit und Versorgungssicherheit sein. Das Statistische Bundesamt, die Bundesnetzagentur, das Bundesumweltamt und das Bundeskartellamt sollen gemeinsam den Prozess überwachen und einen jährlichen Bericht vorlegen. Das Wirtschaftsministerium wird zudem regelmäßig über Fortschritte beim Netzausbau berichten, das Umweltministerium über den Ausbau der Erneuerbaren Energien.
Die Stromversorgung soll trotz der vorgezogenen Abschaltung der Atommeiler gesichert werden. “Selbstverständlich war für alle, dass die Netzstabilität und die Versorgungssicherheit zu jeder Stunde und zu jeder Stromnachfrage im Jahr gewährleistet sein muss.“ Die Koalition hat sich deshalb darauf geeinigt, dass eines der älteren Atomkraftwerk bis 2013 als Reserve-Kraftwerk bereitstehen müsse (Kalte Reserve). Dieses werde von der Bundesnetzagentur ausgewählt. Die Regelung sieht vor, dass bei Stromknappheit zunächst auf die Reserven bei fossilen Kraftwerken zurückgegriffen werden soll. Nur wenn dies nicht ausreiche, werde in den kommenden zwei Winterhalbjahren auch der Reserve-Meiler genutzt.
Röttgen betonte, es habe keinerlei Nebenabsprachen mit Wirtschaftsunternehmen gegeben. “Es war ein rein politisches Gespräch. Es hat hier keine Gespräche mit Wirtschaftsvertretern oder Energieversorgungsunternehmen gegeben.“ Die schwarz-gelbe Koalition war im vergangenen Jahr bei der Verlängerung der Laufzeiten dafür kritisiert worden, eine Vereinbarung mit den Energiekonzernen über die Brennelementesteuer getroffen zu haben. (dapd/dpa/Reuters)