Asylstreit in der Union: Seehofer: Merkel mache aus „Mickey Mouse ein Monster“
Im Flüchtlingsstreit provoziert Innenminister Seehofer die Kanzlerin. EU-Kommissar Oettinger warnt den Bayern eindringlich – Koalitionspartner SPD fordert ein Ende der „Mätzchen“.
Innenminister Horst Seehofer warnt Kanzlerin Angela Merkel davor, ihn wegen eines möglichen Alleingangs zu entlassen. „Wenn man mit dieser Begründung einen Minister entließe, der sich um die Sicherheit und Ordnung seines Landes sorgt und kümmert, wäre das eine weltweite Uraufführung. Wo sind wir denn?“, sagte er der „Passauer Neuen Presse“. „Ich bin Vorsitzender der CSU, einer von drei Koalitionsparteien, und handele mit voller Rückendeckung meiner Partei. Wenn man im Kanzleramt mit der Arbeit des Bundesinnenministers unzufrieden wäre, dann sollte man die Koalition beenden.“
Merkel hatte der CSU zuletzt mit ihrer Richtlinienkompetenz als Regierungschefin gedroht. „Wenn es keine europäische Lösung gibt, werden wir national handeln müssen“, betonte Seehofer weiter. „Wir haben drei Jahre lang geredet. Jetzt ist Zeit für Entscheidungen.“ Er fügte hinzu: „Sollte der Kanzlerin eine europäische Lösung gelingen, wird niemand glücklicher sein als ich.“
"Die Europäische Union wachgeküsst"
Merkel will beim EU-Gipfel Ende Juni die von ihr angestrebte europäische Lösung hinbekommen: Andere EU-Staaten sollen sich in bilateralen Vereinbarungen verpflichten, bei ihnen registrierte und nach Deutschland weitergereiste Flüchtlinge zurückzunehmen. Sollte es dort keine Einigung geben, will Seehofer - gegen den Willen von CDU-Chefin Merkel - ab Anfang Juli solche Flüchtlinge an den Grenzen zurückweisen lassen. Es droht ein Bruch des Unionsbündnisses - und damit der Koalition.
„Ich bin froh, dass ich die Europäische Union wachgeküsst habe.“ Innerhalb von nur einer Woche gebe es plötzlich in Europa Bereitschaft, sich zusammenzusetzen und die Probleme zu lösen. „So etwas habe ich noch nie erlebt.“
Seehofer bestritt indes, der Kanzlerin ein Ultimatum bis Anfang Juli gestellt zu haben. "Unsinn! Es gibt kein Ultimatum. Die Kanzlerin hat die Bundestagsfraktion der Union gebeten, ihr zwei Wochen Zeit zu geben. Der CSU-Vorstand hat beschlossen, es gehört zum guten Stil, einer solchen Bitte einer Kanzlerin zu entsprechen. Plötzlich wird eine Bitte der Kanzlerin zum Ultimatum von Horst Seehofer umgedeutet. Die Kanzlerin hat sich selbst eine Frist gesetzt."
Seehofer verteidigte seinen bislang nicht veröffentlichten "Masterplan Migration". Nur er und Merkel verfügten über den Text, sagte er auf die Frage, warum er den Plan wie eine geheime Verschlusssache behandle. "Die Bundeskanzlerin hat mit 62 1/2 von 63 Punkten kein Problem. Bei dem ausstehenden halben Punkt wird aus einer Mickey Maus ein Monster gemacht", hieß es. "Ich lasse mir meinen Plan nicht zusammenstreichen."
Oettinger warnt Seehofer
Die CSU hat Merkel in der Asylpolitik eine Frist bis zum EU-Gipfel Ende Juni gesetzt. Sollte es dort keine Einigung geben, will Innenminister Seehofer - gegen den Willen der Kanzlerin - ab Anfang Juli Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Land registriert sind, an den Grenzen zurückweisen lassen. Merkel will in bilateralen Abkommen mit europäischen Nachbarstaaten erreichen, dass diese Flüchtlinge an der Grenze abgewiesen und in diese Länder zurückgeschickt werden können.
EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger (CDU) warnte Seehofer eindringlich vor einem Alleingang in der Flüchtlingspolitik. "Damit wäre eine neue, erhebliche Eskalationsstufe erreicht, welche die Union und die Regierung in Frage stellen würde", sagte Oettinger dem "Handelsblatt". Die CSU sei dabei, "die Handlungsfähigkeit Deutschlands in der EU zu beschädigen".
Oettinger forderte die CSU auf, darauf zu verzichten, "ihre subjektiven Interessen zu maximieren". Die EU brauche eine stabile deutsche Regierung - zumal die Stabilität in anderen Mitgliedstaaten nicht mehr gewährleistet sei.
Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) warf der CSU vor, die Union auf einen antieuropäischen Rechtskurs zwingen zu wollen. „In Wahrheit geht es im Moment auch überhaupt nicht um das Thema Grenzabweisung, sondern in Wahrheit will die CSU eine Verschiebung der Position der Union weit nach rechts gegen Europa“, sagte er im Deutschlandfunk. Die CDU könne das nicht dulden.
Gegen die AfD werde die CSU auch nicht erfolgreich sein, wenn sie möglichst laut schreie und versuche, die Rechtspopulisten an Populismus zu überbieten. Im Gegenteil: „Die Länder, die besonnen agieren, auch die Unionsländer, und einfach problemlösungsorientiert agieren, die halten die AfD klein“, sagte Günther.
Zorn in der SPD
Der erbitterte Unionsstreit über die Asylpolitik sorgt beim Koalitionspartner SPD zunehmend für Unmut. Sie sei „sehr verärgert über die Art und Weise, wie hier mit Deutschland auch gespielt wird, weil man offensichtlich Panik hat, dass man in Bayern die absolute Mehrheit verliert“, sagte die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles in den ARD-„tagesthemen“ mit Blick auf die CSU und die bayerische Landtagswahl im Oktober.
Es gehe in dem Streit gar nicht mehr um die Flüchtlingspolitik, sondern vielmehr um Machtkämpfe, Rivalitäten sowie um „innerparteilichen Geländegewinn“, „und ganz Deutschland und fast Europa werden in Geiselhaft genommen für diese Spielchen“. Als SPD-Vorsitzende und Fraktionschefin sei sie „nicht bereit, diese Mätzchen noch weiter mitzumachen“, warnte Nahles.
In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov sprachen sich 43 Prozent der Befragten dafür aus, dass Merkel zurücktritt und ihr Amt an einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin übergibt. Mit 42 Prozent wünschen sich etwa genauso viele Befragte, dass die CDU-Vorsitzende Kanzlerin bleibt. Die restlichen 15 Prozent machten keine Angaben.
Dobrindt: "Es gibt eine Vertrauenskrise"
Auch der CDU-Politiker Norbert Röttgen griff die Schwesterpartei an. Sie setze wegen einer ungewissen Lösung für drei Grenzübergänge bei sonst weiter unkontrollierten Grenzen „alles - eine Koalition, diese Erfolgsfraktionsgemeinschaft - aufs Spiel“, sagte der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Auswärtiges im ZDF. „Das ist überhaupt nicht mehr rational und überhaupt nicht verantwortlich.“
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte am Donnerstagabend in der ZDF-Sendung „Maybrit Illner“: „Es geht nicht um eine Person. Wir wollen das gemeinsam mit der Kanzlerin lösen.“ Aber: Es gebe eine Vertrauenskrise.
Italien fühlt sich bei EU-Gipfel-Erklärung übergangen
Nach ihrer Rückkehr will Merkel am Sonntag mit mehreren europäischen Staats- und Regierungschefs in Brüssel über die Flüchtlingspolitik debattieren. Doch auch hier gibt es Wirbel: Der Ministerpräsident Italiens, Giuseppe Conte, hatte mitgeteilt, Merkel habe ihm zugesagt, dass der Entwurf der geplanten Erklärung „beiseite gelegt“ werde. Das Land fühlt sich bei der Vorbereitung des Treffens übergangen. In deutschen Regierungskreisen wurde betont: „Das Treffen am Sonntag hat lediglich vorbereitenden Charakter.“ Die Bundesregierung sei in konstruktiven Gesprächen mit Italien.
Der Gastgeber des Brüsseler Treffens, EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, hatte eine vierseitige Erklärung angepeilt. Mit dieser wollte er die Verständigung der Teilnehmer auf eine Reihe von Grundprinzipien im Asylstreit befördern. In dem Entwurf des Papiers heißt es: „Wir werden einen flexiblen gemeinsamen Rücknahmemechanismus nahe an den Binnengrenzen einrichten.“ Nach seinem Willen sollen Merkel und die anderen Teilnehmer auch eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg bringen, um die Weiterreise von Asylsuchenden zwischen EU-Staaten zu unterbinden. „Es gibt kein Recht, den Mitgliedsstaat, in dem Asyl beantragt wird, frei zu wählen“, hieß es in dem Entwurf. (dpa, Reuters, AFP)
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