Streit um den Stromnetzausbau: Seehofer bringt die Energiewende zum Kentern
Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer stellt die zwei nach Bayern führenden Höchstspannungstrassen in Frage. Will er damit die Stromkunden erpressen, ihm ein Gaskraftwerk zu finanzieren? Oder will er die gesamte Energiewende untergraben? Ein Kommentar.
Horst Seehofer (CSU) ist immer für eine Überraschung gut. Dass er nun den gesamten Ausbauplan für das deutsche Höchstspannungsnetz in Frage stellt, ist allerdings selbst für einen politischen Populisten wie ihn ein ziemlich starkes Stück. Denn die beiden vom Bundestag beschlossenen und vom Bundesrat genehmigten Netzentwicklungspläne für die Jahre 2022 und 2023 sind ja nicht vom Himmel gefallen. Der Kern dieser Ausbaupläne war seit dem Beginn der Debatte vor einigen Jahren der Neubau von großen Nord-Süd-Leitungen, um Windstrom aus dem Norden in die Verbrauchszentren in Bayern und Baden-Württemberg zu bringen. Man muss diese Pläne nicht für bis ins Detail gelungen halten. Aber sie aus einem egoistischen Landesinteresse heraus gegen die geltende Gesetzeslage einfach so zu den Akten zu legen, ist dem Thema nicht angemessen.
Die Angst der politischen Elite in Berlin war von Anfang an, dass die Bürger den Netzausbau nicht mitmachen würden. Sie hat selbst viel dazu beigetragen, dass das Vertrauen in die Netzausbaupläne nicht allzu ausgeprägt ist. So war es beispielsweise nicht sehr clever, mit der Planung gleich zweier Leitungen in den Braunkohlerevieren zu beginnen, anstatt dort, wo der Windstrom anfällt. Trotzdem sind sich fast alle Fachleute einig, dass es ohne Netzausbau nicht geht. Schon allein, um die Konflikte mit den Nachbarstaaten zu entschärfen, über deren Netze in der Vergangenheit oft deutscher Windstrom nach Süden geleitet worden ist. Aber auch, um nicht sofort umfangreiche Investitionen in Speichertechniken vornehmen zu müssen, die derzeit noch wenig ausgereift oder gar nicht erprobt sind. Ein Stromnetz mit größeren Kapazitäten kann da manche Unebenheit im Ablauf ausgleichen. Horst Seehofer war bei den Energiegipfeln im Kanzleramt dabei, als sich die Ministerpräsidenten und die Kanzlerin in die Hand versprochen haben, beim Netzausbau zu stehen und sich gemeinsam dafür einzusetzen, dass er kommt.
Seehofer verlangt von den Stromkunden ein bayerisches Gaskraftwerk
Das gilt für Bayern nun offenbar nicht mehr. Horst Seehofer hat seit der Entscheidung für den Atomausstieg die Befürchtung, dass die Versorgungssicherheit in seinem Freistaat gefährdet sein könnte, wenn der letzte Meiler vom Netz geht. Das verbindet ihn übrigens mit seinem Stuttgarter Kollegen Winfried Kretschmann (Grüne). In den beiden Südländern sind noch immer viele Atomkraftwerke am Netz. Seehofer hat deshalb von Anfang an gefordert, dass Bayern als Ersatz ein Gaskraftwerk - oder noch besser mehrere Gaskraftwerke - an den ehemaligen Atomstandorten bekommen solle. Nun ist der Bau von Gaskraftwerken derzeit nicht besonders attraktiv. Selbst neue Anlagen stehen fast durchgehend still, weil alte abgeschriebene Atomkraftwerke oder Kohlekraftwerke den Strom billiger produzieren können als neue effiziente Gaskraftwerke. Es gibt kein Unternehmen, das derzeit zu investieren bereit wäre. Ohne einen Kapazitätsmarkt, also Prämien für diejenigen Kraftwerksbetreiber, die flexible Produktionseinheiten vorhalten, um dann einzuspringen, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht, werden sich solche Investoren vermutlich auch nicht finden. Deshalb wirbt die bayerische Energieministerin Ilse Aigner (CSU) am Freitag auch mit ihrem Stuttgarter Kollegen Franz Untersteller (Grüne) für die Schaffung eines solchen Leistungsmarktes.
Weil die niedrigen Strompreise als Investitionsanreiz für Kraftwerksbauer nicht ausreichen, hat Seehofer gefordert, dass die Bundesnetzagentur feststellen möge, dass zumindest ein Gaskraftwerk in Grafenrheinfeld für das Funktionieren des deutschen Stromnetzes als "systemrelevant" anerkannt werde. Denn dann müssten alle deutschen Stromkunden den Bayern ein Gaskraftwerk bauen. Doch den Gefallen hat die Bundesnetzagentur Seehofer nicht getan. Sie hält ein Gaskraftwerk nicht für "systemrelevant", jedenfalls dann nicht, wenn das Stromnetz wie geplant ausgebaut wird. Da Seehofer in seinem Landesetat offenbar auch keine überflüssigen Millionen gefunden hat, um als Land selbst sein Gaskraftwerk zu bauen, scheint er nun auf Obstruktion zu setzen. Wenn die Stromleitungen nicht kommen, so könnte die Überlegung lauten, dann muss das Gaskraftwerk vielleicht doch noch gebaut werden.
Der Konflikt um die Trassen ist nicht einmal mit einem Kuhhandel lösbar
Beim Koalitionsausschuss am Dienstagabend wird der Trassenstreit ein wichtiges Thema sein. Aber es dürfte für die Kanzlerin und ihren Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) schwer werden, Horst Seehofer in so etwas wie eine Koalitionsdisziplin zu zwingen. Denn dagegen ist Seehofer immun. Das hat er mehr als einmal bewiesen. Und in der Sache ist der Konflikt nahezu unlösbar. Denn für die Energiewende werden die Leitungen gebraucht, ob in Bayern ein Gaskraftwerk gebaut wird oder nicht. Ein Kompromiss, mit dem alle deutschen Stromkunden Bayern ein Gaskraftwerk finanzieren, dürfte aber kaum vermittelbar sein. Und er würde das Problem auch nicht beseitigen. Denn mit Seehofers Ausscheren aus der Netzausbaufront können sich all die Bürgerinitiativen bestätigt fühlen, die mit dem Argument Gemeinwohl nicht zu erreichen sind. Der Schaden ist angerichtet. Selbst dann, wenn Seehofer eine ganz andere Kalkulation gemacht haben sollte: eine Ausländermaut ergibt zwei Stromleitungen. Sollte das seine Motivation gewesen sein, hätte er sich harte Auseinandersetzungen um den Netzausbau in Bayern eingehandelt, die er mit all seinem Charisma kaum noch gewinnen kann. Deshalb fragen sich einige politische Beobachter, ob es Seehofer womöglich sogar darum geht, die ganze Energiewende kentern zu lassen. Zutrauen würden ihm das einige.