Türkei: Schwere Vorwürfe gegen Erdogan
Zum ersten Mal seit Bekanntwerden der Korruptionsvorwürfe gegen die türkische Regierung ist jetzt Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan persönlich ins Zwielicht geraten. Telefonmitschnitte belegen nach Ansicht der Opposition, dass Erdogan und sein Sohn Bilal große Geldsummen vor der Staatsanwaltschaft versteckten.
Erdogan dementiert und spricht von Manipulation. In einer kämpferischen Rede am Dienstag nannte er die angeblichen Mitschnitte "schmutzige Montagen" mit dem Ziel, die Regierung zu diskreditieren. Die politischen Gegner des Premiers fordern jedoch den Rücktritt des Ministerpräsidenten und juristische Schritte gegen den 59-Jährigen. Es sieht nicht so aus, als werde sich Erdogan dem Druck beugen. Doch mit jedem neuen Vorwurf erhält Erdogans Ruf neue Kratzer. Einige Beobachter sind der Meinung, dass der Premier seinen Traum vom Präsidentenamt begraben kann.
Fünf Telefonate von insgesamt etwa elf Minuten Länge von Erdogan und seinem Sohn wurden angeblich am 17. und 18. Dezember des vergangenen Jahres aufgezeichnet. Am Morgen des 17. hatten Istanbuler Staatsanwälte im Rahmen von Korruptionsermittlungen mehrere Dutzend Verdächtige festnehmen lassen, darunter die Söhne von drei Ministern aus Erdogans Kabinett. In den Telefonmitschnitten trägt Erdogan seinem Sohn von Ankara aus auf, eine nicht näher genannte Geldsumme aus seinem Haus in Istanbul verschwinden zu lassen.
Um wie viel Geld es sich handelt und woher es stammt, ist nicht klar; an einer Stelle ist von 30 Millionen Euro und 20 Millionen Dollar in bar die Rede, die bis zum Abend des 17. Dezember noch nicht aus dem Haus geschafft werden konnten. Insgesamt sei es um eine Milliarde Dollar gegangen, hieß es in einigen Berichten im Internet. Laut den Mitschnitten verteilte Bilal das Geld bei befreundeten Geschäftsleuten.
Mehrmals weist Erdogan seinen Sohn zurecht, er solle am Telefon nicht offen über Geldsummen sprechen. Erdogans Stimme klingt müde und ist zeitweise kaum zu verstehen. Ein ehemaliger enger Berater des Ministerpräsidenten, Ex-Vizepremier Abdüllatif Sener, betonte jedoch, er erkenne die Stimme seines früheren Chefs genau.
Erdogan sagte dagegen, es handele sich um einen politischen Erpressungsversuch. Wer Erdogan abgehört haben soll, blieb unklar. Die Staatsanwaltschaft in Ankara nahm Ermittlungen auf. Regierungstreue Zeitungen hatten erst am Montag gemeldet, Istanbuler Staatsanwälte hätten Erdogan und rund 7000 andere Menschen in der Türkei illegal abgehört. Angeblich handelten die Juristen im Auftrag der mit Erdogan verfeindeten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen.
Trotz des Dementis aus Ankara blieb die größte Oppositionspartei des Landes, die säkularistische CHP, bei ihrer Ansicht, die Mitschnitte seien echt. Erdogan habe jedwede Legitimation verloren und müsse zurücktreten. CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu sagte, es würden bald weitere Beweise gegen die Regierung auftauchen. An Erdogan gewandt, sagte er: "Steig' in einen Hubschrauber und hau ab ins Ausland, oder tritt zurück."
Gut vier Wochen vor den Kommunalwahlen am 30. März nehmen die innenpolitischen Spannungen damit erneut zu. An der Istanbuler Börse fielen am Dienstag die Kurse, auch die Lira rutschte wieder ab. Für Erdogan geht es bei den Kommunalwahlen nicht nur um ein möglichst gutes Abschneiden seiner Partei AKP, sondern auch um die Frage, ob er politisch stark genug ist, um bei der Präsidentenwahl im August für das höchste Staatsamt zu kandidieren. Einige Demoskopen sehen einen deutlichen Stimmenverlust für die AKP, andere gehen davon aus, dass Erdogan kaum an Unterstützung verloren hat.
Erdogan habe keine Chance mehr auf das Präsidentenamt, sagte Nationalistenchef Devlet Bahceli kürzlich. Auch unabhängige Beobachter sind skeptisch. Selbst bei einem relativ guten Ergebnis für die AKP bei den Kommunalwahlen im März werde es für Erdogan schwer, schrieb der Journalist Murat Yetkin kürzlich in der Zeitung "Radikal": Erdogans harte Linie während der Gezi-Proteste des vergangenen Jahres, sein Dauerstreit mit der Gülen-Bewegung und die Korruptionsvorwürfe haben nach Yetkins Meinung ihre Spuren hinterlassen.
Idris Bal, ein früherer Parteifreund des Ministerpräsidenten, der sich von Erdogan losgesagt hat, prophezeit ebenfalls erhebliche Probleme für den Regierungschef. Die AKP stehe vor einem Einbruch in der Wählergunst, sagte Bal. Was Erdogans Präsidentschaftsambitionen angehe, so seien die Chancen des Ministerpräsidenten nicht nur schlecht – sondern "null".
Susanne Güsten