Besuch des türkischen Ministerpräsidenten in Berlin: Erdogan - Botschafter seiner selbst
Wirtschaftskrise, Korruption, Polizeigewalt. Wer einen angeschlagenen türkischen Ministerpräsidenten erwartet hatte, lag falsch. Erdogan wirkte bei seinem Besuch in Berlin entschlossen und selbstbewusst. Genau das haben seine Gegner befürchtet – und seine Anhänger erhofft.
Er lässt sich Zeit. Eineinhalb Stunden später als erwartet betritt er schließlich die Bühne im Berliner Tempodrom. Voll besetzt sind die Plätze, selbst auf den Treppen zwischen den Rängen sitzen Menschen und jubeln. Rote Fahnen mit Halbmond und Stern werden geschwenkt, Handykameras blitzen.
Recep Tayyip Erdogan, der türkische Ministerpräsident, ist nach Berlin gekommen. Ein Arbeitsbesuch, so heißt es offiziell. Schon am Dienstagvormittag hat er einen Vortrag gehalten, später die Kanzlerin Angela Merkel getroffen. Und doch ist es der Auftritt am Abend, der an diesem Tag sein größter ist. Vor rund 4000 Anhängern. "Steh aufrecht", rufen die ihm zu. "Lass dich nicht unterkriegen. Dein Volk ist mit dir."
"Berlin trifft den großen Meister", so hatte der Organisator, die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), die abendliche Veranstaltung genannt. Und schon am frühen Nachmittag hatten die ersten rund 100 Menschen vor dem Eingang zum Tempodrom gewartet, die meisten von ihnen Anhänger von Erdogans Partei AKP. Als um kurz nach 17 Uhr die Türen geöffnet werden, strömen die Besucher hinein. Einige breiten in den Gängen Serviettentücher aus und fangen an zu beten. Neun Banner ziehen sich in der Halle um die Geländer der schnell voll besetzten Ränge, die meisten mit türkischen Slogans. Lediglich der Spruch „Respekt für Demokratie“ ist auf Deutsch und Englisch zu sehen.
Die 19-jährige Schülerin Selda aus Berlin ist ins Tempodrom gekommen, um den türkischen Ministerpräsidenten einmal live zu erleben. „Ich bin aber nicht so ein krasser Fan“, sagt sie, während sie auf eine Gruppe junger Türken zeigt, die die türkische Fahne schwenken und sich dabei fotografieren lassen. Umut, 26 Jahre alt, ist unter den Zuschauern, weil er hofft, etwas über die aktuelle politische Situation zu erfahren. "Der hat ja heute mit Politikern gesprochen. Ich würde gerne wissen, wie es um den EU-Beitritt steht und wie er die politische Lage in der Türkei erklärt." Die 63-jährigen Fadime hingegen, ist es egal, was Erdogan erzählt. "Ich unterstütze ihn voll und ganz", sagt sie. "Ich glaube die ganzen Lügen nicht, die über ihn verbreitet werden."
Erdogan: „Die Türkei ist in Sicherheit.“
Als Erdogan schließlich seine Rede beginnt, steht er ganz ruhig am Pult. Kein Winken mehr, wie zuvor. Kaum hebt er mal die Hand. „Ich weiß, dass ihr die Ereignisse in eurem Land verfolgt“, beginnt er. Dann versichert er den Teilnehmern: „Die Türkei ist in Sicherheit.“ Jubel bricht aus, „Allahu Ekber“ rufen die Leute.
Er wünsche sich, sagt Erdogan, dass die in Deutschland lebenden Türken stolz darauf sind, in Deutschland zu leben und zu arbeiten. „Gleichzeitig möchte ich, dass ihr Stolz darauf seid, Türken zu sein.“
Dann gibt er sich ganz als Wahlkämpfer und zählt Großprojekte wie den Bau eines dritten Flughafens in Istanbul oder der dritten Brücke über den Bosporus als Erfolge seiner Regierung auf. Erfolge von denen die Opposition nicht einmal zu träumen wage. Seine Gegner wollten diese Großprojekte stoppen, um die Wirtschaft zu schwächen. Genau die aber, seine Kritiker und Gegner, würden ihr Vaterland nicht lieben.
Auch das Schul- und Gesundheitswesen habe er in seiner Amtszeit verbessert. „Ich kann mich an Zeiten erinnern, als wir uns keine Medikamente leisten konnten, sagte er. Dabei seufzt er „Ahhhhhhh“ wie ein Mann, der das Leid ganz genau kennt.
Wie schon bei seinen vergangenen Auftritten betont Erdogan, wie wichtig es sei, Deutsch zu lernen, aber die Verbindung in die Türkei dürfe nicht gekappt werden. Sie, die Türken in Deutschland, müssten ihre Identität und ihre Kultur bewahren. „Ihr seid europäische Türken“, sagt er.
Zweifel scheint Recep Tayyip Erdogan nicht zu kennen
Auch das Kopftuchverbot habe seine Regierung abgeschafft. Die Menge jubelt. Fahnen werden geschwenkt. Frauen mit Kopftüchern applaudieren. Seine Landsleute hätten ihre Heimat verlassen müssen. „Was war ihr Fehler? Sie trugen ein Kopftuch“, gibt Erdogan die Antwort auf seine Frage. Und auch Koranunterricht an Schulen sei jetzt möglich.
„Wir haben gehört, was wir hören wollten“, erklärt eine Dame, die ihren Namen nicht nennen wollte, nach der Veranstaltung. Der 65-jährige Mustafa Akyol sagt: „Ich habe nichts auszusetzen an seiner Rede. Er hat alles abgedeckt, was ich von ihm wissen wollte.“ Sie zweifeln nicht an Recep Tayyip Erdogan. Und wenn es nach ihm geht, dann sollen sie ihn im August wählen.
Fast drei Millionen Menschen in Deutschland haben türkische Wurzeln. Knapp die Hälfte von ihnen ist nach Angaben der Türkischen Gemeinde in Deutschland in der Türkei wahlberechtigt. Wenn im August in der Türkei Präsidentschaftswahlen stattfinden, kann dabei zum ersten Mal der Präsident direkt vom Volk gewählt werden. Und zum ersten Mal dürfen auch jene Türken ihre Stimme abgeben, die im Ausland leben. Dass Erdogan kandidiert, die Nachfolge Abdullah Güls anzutreten, davon kann ausgegangen werden.
Selbstzweifel jedenfalls kennt er nicht. Das bewies er schon am Dienstagvormittag bei einem Vortrag vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Auch da zählte er sie auf, seine Erfolge: In der Finanzkrise, die die Welt, aber vor allem die Europäische Union in den vergangenen Jahren erschüttert hat, stand die Türkei fest da. Die Wirtschaft sei in dieser Zeit von 2010 bis 2012 um durchschnittlich fünf Prozent gewachsen, das nationale Einkommen habe sich verdreifacht, der Export sogar vervierfacht. Die Inflation sei zurückgegangen, wichtige Reformen seien angegangen worden. „Und diese Entwicklung wird weitergehen“, kündigte er an. Wer einen veränderten, einen selbstkritischen türkischen Ministerpräsidenten erwartet hatte, wurde enttäuscht.
Wie sieht es in der Türkei tatsächlich aus?
Erdogan ist nicht nach Berlin gekommen, um Schwäche zu zeigen. Er ist gekommen, um – inmitten des größten Korruptionsskandals in der Geschichte der Türkei – Vertrauen wiederherzustellen, das er im Ausland verloren hat. Er will sich Unterstützung für einen EU-Beitritt seines Landes sichern, Hilfe beim Umgang mit den 700 000 Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien – und er will Wahlkampf machen. Für sich selbst.
Dafür ist Berlin ein perfekter Ort: Denn allein hier in der Stadt leben 180 000 Menschen mit türkischen Wurzeln, rund 100 000 von ihnen haben einen türkischen Pass. Um die geht es ihm besonders. Schon am Morgen hatten Anhänger Erdogans Fahnen schwenkend vor dem Ritz Carlton am Potsdamer Platz gestanden, wo er mit seiner Familie übernachtete. Viele Türken waren zu seiner Unterstützung sogar aus ganz Deutschland und zum Teil aus den Nachbarländern angereist.
Am Vormittag in den Räumen der DGAP steht Erdogan ruhig da, schaut sein Publikum direkt an, ernst und entschlossen will er wirken. Nur ab und zu unterstreicht er eine besonders wichtige Bemerkung mit langsamen Handbewegungen. Ein Lächeln kommt kaum über seine Lippen in dieser guten Stunde, in der er den meist älteren, männlichen Zuhörern erklären will, erklären soll, wohin die Türkei steuert. Ein bisschen schmaler scheint er zu sein, aber angeschlagen, wie er in jüngster Zeit auf manchen Beobachter gewirkt hat, sieht er nicht aus.
Dabei kann man die Entwicklung der vergangenen Monate auch ganz anders sehen, als er selbst es glauben machen will. Tatsächlich schwächelt nach den langen Boomjahren die Wirtschaft überraschend deutlich. Viele der Reformen, die für einen möglichen EU-Beitritt notwendig wären, wurden rückgängig gemacht, die Unabhängigkeit der Justiz mittlerweile arg beschnitten. Seit Beginn der Korruptionsaffäre vor sechs Wochen, genauer am 17. Dezember, sind vier Minister zurückgetreten, sechs Abgeordnete haben die islamisch-konservative Partei verlassen, Hunderte Polizisten und Staatsanwälte wurden entlassen oder versetzt.
Erdogan wittert eine Verschwörung
Für die Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung macht Erdogan den in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen verantwortlich – auch wenn er diesen bei seinem Vortrag namentlich nicht ein einziges Mal erwähnt. Aber er spricht von einem Netzwerk, das einen Anschlag auf die türkische Wirtschaft und Demokratie verübt habe. Er wittert eine Verschwörung, die seiner Partei kurz vor den Kommunalwahlen am 30. März und ihm selbst wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen schaden soll. Doch „mit Unterstützung der Bevölkerung“, so betont er, sei dieser Angriff am 17. Dezember abgewehrt worden. Bei den Kommunalwahlen werde dieses entschlossene Handeln der Regierung belohnt, ist Erdogan überzeugt, die „Provokationen, die Sabotage“ seien überwunden – „ein historischer Wendepunkt“. Zur Belohnung erwartet der Ministerpräsident den EU-Beitritt, für den sich gerade die deutschen Freunde bitte deutlicher als in der Vergangenheit einsetzen sollen. Denn: „Nicht nur die Türkei braucht die EU, auch die EU braucht die Türkei.“
Doch so einfach wird das alles nicht werden. Zeitgleich zu seinem Besuch am Dienstag wurde bekannt, dass der Prediger Gülen die Verschwörungstheorien Erdogans nicht hinnehmen will. Gülen hat Klage gegen den Ministerpräsidenten eingereicht – wegen Hetze und Beleidigung. Er will ein Schmerzensgeld in Höhe von 100 000 Lira, umgerechnet rund 30 000 Euro.
Auch die Zweifel an der Beitrittsfähigkeit seine Landes sind eher gewachsen in jüngster Zeit. Nicht vergessen ist das harte Vorgehen gegen die Demonstranten im Istanbuler Gezi-Park im vergangenen Sommer, das auch viele Türken im Ausland empörte. Damals gingen allein in Berlin Tausende auf die Straße. Am Dienstag gab es erneut Demonstrationen.
Wie steht Angela Merkel zu Erdogan?
Als Erdogans Wagen um die Mittagszeit am Kanzleramt vorfährt, schallen ihm Buhrufe entgegen. Auch am Brandenburger Tor haben sich mehrere hundert Demonstranten versammelt, die meisten von ihnen sind Mitglieder alevitischer Vereine aus Deutschland und extra für die Demonstration nach Berlin gereist. Sie alle sind entsetzt, dass er die Proteste des Sommers so gewaltsam unterbunden hat. Einige von ihnen fordern Sanktionen gegen die türkische Regierung. Wirtschaftliche Interessen dürften nicht im Vordergrund der deutschen Türkei-Politik stehen.
Bei der Pressekonferenz im Anschluss an ihr Treffen mit dem türkischen Ministerpräsidenten spricht Angela Merkel die Gezi-Proteste an. Kühl erinnert sie daran, dass sie das Vorgehen der Sicherheitskräfte „mehrfach“ kritisiert hat. Erdogan verzieht keine Miene. Auch nicht, als die Kanzlerin betont, bekanntlich keine Anhängerin einer Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU zu sein. Die Verhandlungen über einen türkischen Beitritt nennt Merkel einen „ergebnisoffenen Prozess“, „zeitlich nicht befristet“. Sie habe Erdogan deutlich gemacht, wie sehr Deutschland hoffe, dass die Reformen auch Bestand haben. Und Merkel erwähnt dabei, kein Zufall, vor allem die angestrebten Gespräche zum Thema Rechtsstaat. Dabei werde es auch um die Unabhängigkeit der Justiz gehen. Die Botschaft ist klar: Was seit dem 17. Dezember in der Türkei passiert, beunruhigt Deutschland und die EU. Man wird ganz genau hinsehen, wie es weitergeht.
Erdogan beginnt, sein wahres Gesicht zu zeigen
Vor knapp elf Jahren versprach Erdogan Wohlstand, Gerechtigkeit, eine Annäherung an die EU und einen moderaten Islam. Er wollte sein Land modernisieren und dem Klüngel ein Ende setzen. Viele Türken hofften auf eine bessere Zukunft und wählten ihn damals zum Ministerpräsidenten.
Dann aber riet der Politiker, der als Modernisierer angetreten war, den türkischen Frauen, mindestens drei Kinder zur Welt zu bringen; er setzte sich zum Ziel, gemischtgeschlechtliche Studentenwohnheime abzuschaffen und Alkohol aus dem öffentlichen Leben der Türkei zu verbannen. Erdogan begann, nach Ansicht seiner Kritiker, sein wahres Gesicht zu zeigen. Und im Sommer dann das gewaltsame Vorgehen gegen die Proteste im Gezi-Park und auf dem Taksim-Platz in Istanbul.
Dabei hatte Erdogan als Oppositionspolitiker einst selbst die Macht des Staates zu spüren bekommen. 1999, fünf Jahre nachdem er zum Istanbuler Oberbürgermeister gewählt worden war, musste er wegen religiöser „Aufhetzung des Volkes“ für vier Monate ins Gefängnis und verlor sein Amt. Er hatte bei einer Veranstaltung der später verbotenen Wohlfahrtspartei ein Gedicht zitiert. Darin heißt es: „Die Minarette sind unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme, die Moscheen unsere Kasernen und die Gläubigen unsere Armee.“ Als es um das Kopftuchverbot an türkischen Universitäten ging, klagte der islamisch-konservative Politiker einst selber über die Eingriffe der Laizisten im Staatsapparat, weil sie jungen Türkinnen vorschrieben, was sie tragen dürfen und was nicht.
Die Zustimmung sinkt
Nun ist es Erdogan, der das staatliche Handeln an eigenen Moralvorstellungen ausrichtet. Vielen seiner Landsleute geht es heute besser als vor seiner Zeit als Ministerpräsident. Viele haben ihn gefeiert, als er der Macht des Militärs einen Riegel vorschob. Doch seine zunehmend autoritären Tendenzen gehen auch einigen AKP-Mitgliedern zu weit. Ein halbes Jahr vor der Präsidentschaftswahl hat auch Erdogan gemerkt: Wenn jemand seine Macht begrenzen kann, sind es die Wähler.
Und die stehen nicht mehr so fest zu ihm, wie er es jahrelang gewohnt war. Die Zustimmung zu Erdogans Regierung ist gesunken, die Umfragewerte für die AKP gingen von 50 auf unter 40 Prozent herunter. Doch Erdogan will kämpfen. 2014 werde ein historisches Jahr, hat er am Morgen gesagt. Da hatte er es auf die Beziehung zur EU bezogen. Aber er meint es auch für sich selbst.
Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.