Abstimmung über Koalitionsvertrag: Schwache Spitze war einmal – die SPD weiß, wo es hingehen soll
Noch Anfang des Jahres schien der Anspruch der SPD aufs Kanzleramt absurd. Heute kann sie sich überlegen, wie sie ihre Stärke ausbaut. Ein Kommentar.
Die Basis bleibt diesmal außen vor. Die rund 400.000 Mitglieder der SPD wurden nicht nach ihrer Meinung zum Koalitionsvertrag gefragt. Nur die Delegierten eines kleinen hybrid-digitalen Parteitags entschieden am Samstag, dass die sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten mit ihren Kollegen von Grünen und der FDP Olaf Scholz mit diesem Regierungsprogramm kommende Woche zum Kanzler wählen sollen. Am guten Ausgang zweifelte niemand.
Lauter Unmut darüber war nicht zu hören, was womöglich auch damit zusammenhängt, dass die Entscheidung für Basisbefragungen bei der SPD in den vergangenen Jahren oft auf mangelnden Mut zur Führung oder auf eine schwache Spitze hindeutete. Dieses Problem scheint die Gewinnerin der Bundestagswahl überwunden zu haben. Es ist klar, wer das Sagen hat und wo es hingehen soll.
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Und während jede neue Juniorpartnerschaft mit der Union vielen Sozialdemokraten körperliche Schmerzen bereitet hatte, belebt die Aussicht auf den Wiedereinzug ins Kanzleramt nach 16 Jahren. Zum Hadern und zu ängstlichen Nachfragen an der Basis gibt es keinen Grund. Die Körpersprache der SPD hat sich völlig verändert.
Die Geschlossenheit der einst für ihre Streitsucht notorischen Partei im gesamten Wahljahr hat die Union so verblüfft, dass sie die sozialdemokratische Disziplinleistung nach ihrer Niederlage sogar als Vorbild pries, dem sie nacheifern will. Dabei war es eine völlig unwahrscheinliche Entwicklung, dass mit Olaf Scholz der Verlierer des Mitgliederentscheids über den Parteivorsitz im Jahr 2019 von seinen siegreichen Konkurrenten Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans erst mit auf den Schild gehoben und dann gestützt wurde.
Formal musste er dafür deren Führung anerkennen und der Parteilinken inhaltliche Zugeständnisse machen. Es war nicht in erster Linie die eigene Stärke, sondern es waren vor allem die Fehler und Schwächen der Konkurrenten, welche die Wähler zur SPD trieben.
Sicher half auch das Kontinuitäts- und Kontrollversprechen als bester, verlässlichster Nachfolger von Angela Merkel, das jetzt in der Aufbruchsrhetorik der kommenden Ampel-Koalition in Vergessenheit gerät. Die Beschwörung des Fortschritts, der die drei Partner zusammenschweißen soll, dringt unter dem Druck der Pandemie ohnehin nur noch schwer durch.
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Mit einem gewissen Gleichmut hat die SPD und auch ihr linker Flügel hingenommen, dass ihre Pläne für ein sozial gerechteres Steuersystem an der FDP scheiterten, die zuvor zu den identitätsstiftenden sozialdemokratischen Großversprechen zählten. Diesen Preis der Macht zu zahlen, war die SPD bereit. Zumal sie mit dem Mindestlohn von zwölf Euro, dem stabilen Rentensystem und dem Plan für Hunderttausende neuer Wohnungen eigene Kernforderungen durchsetzte.
Mit der Nominierung von Kevin Kühnert als Generalsekretär stellt sich die Frage, ob der künftige Kanzler der Parteilinken weitere Zugeständnisse macht. Aber der Ex-Juso-Chef, der entscheidend dazu beigetragen hatte, Scholz als Parteichef zu verhindern, hat sich weiterentwickelt seit seiner Wahl zum Parteivize vor zwei Jahren und eine neue Rolle angenommen. Gerade weil er vom linken Flügel kommt, könnte er die Integration von Regierungsarbeit und Partei glaubhaft begründen.
Manche Anzeichen sprechen dafür, dass die SPD als Kanzlerpartei eine neue Bereitschaft zur Verantwortung zeigen will – etwa die Wahl der heiklen Ministerien für Inneres und Verteidigung. Mit staatlichen Machtmitteln haben sich Sozialdemokraten oft schwergetan, weil ein großer Teil von ihnen sich eher an großen Idealen als an Notwendigkeiten orientiert. Wenn die Partei demnächst in der Regierung den keineswegs wertfreien Pragmatismus von Olaf Scholz nicht denunziert, sondern aus Überzeugung stützt, muss das für ihren weiteren Erfolg kein Nachteil sein.