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Martin Schulz redet in der Gollan-Kulturwerft in Lübeck.
© imago/Agentur 54 Grad
Update

Designierter SPD-Kanzlerkandidat: Schulz will Korrektur der Agenda 2010

Martin Schulz beschert der SPD steigende Umfragewerte. Der Kanzlerkandidat fordert mehr Gerechtigkeit - einem Bericht zufolge fordert er eine längere Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I.

Als die Vorsitzende der sozialdemokratischen Gruppierung „Demokratische Linke 21“ (DL21), Hilde Mattheis, Mitte vergangene Woche Forderungen der DL21 zum künftigen Wahlprogramm des Kanzlerkandidaten Martin Schulz vorstellte, wurde sie nach der Haltung des neuen Hoffnungsträgers zur Vermögensteuer gefragt. „Ich weiß es nicht“, antwortete die SPD-Bundestagsabgeordnete offenherzig.

Klüger als Mattheis sind auch die meisten anderen SPD-Mitglieder, Funktionäre oder Beobachter der Partei nicht, wenn es darum geht, was Schulz im Einzelnen vorhat. Der 61-Jährige hat mit seinem kämpferischen Antritt die SPD aus der Lethargie gerissen und den Bundestagswahlkampf 2017 von einem Tag auf den anderen wieder spannend gemacht. Seine Partei wittert Kanzlerluft.

Wer aber nachfragt, was der künftige Kandidat ganz konkret in der Steuerpolitik, im Rentensystem, in der Familienpolitik vorhat, wer wissen will, oder ob er die Forderung von Fraktionschef Thomas Oppermann nach Rückführungslager für Flüchtlinge in Nordafrika teilt, bekommt gegenwärtig nur wenig Antworten. Offenbar ist auch dem früheren Präsidenten des Europaparlaments selbst bewusst, dass er noch manches nachholen muss. Ende März soll der Parteivorstand den Entwurf des Wahlprogramms verabschieden, den dann ein Parteitag im Juni beschließen soll.

Korrektur der Sozialreform Agenda 2010

Am Montag berichtete dann die "Bild", Schulz wolle mit einer Korrektur der Sozialreform Agenda 2010 in den Wahlkampf ziehen. Der frühere EU-Parlamentspräsident wolle die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I verlängern. Die konkrete Dauer stehe noch nicht fest. "Fehler zu machen ist nicht ehrenrührig. Wichtig ist: Wenn Fehler erkannt werden, müssen sie korrigiert werden", sagte Schulz dem Blatt. Wenn man im Alter von 50 Jahren nach 15 Monaten Arbeitslosengeld I dann Hartz IV erhalte, gehe das an die Existenz.

Die Agenda 2010 geht auf die Regierung des sozialdemokratischen Kanzlers Gerhard Schröder zurück. Dem Bericht zufolge will Schulz auch mit Einschränkungen von befristeten Arbeitsverhältnissen Wahlkampf machen. Künftig sollten Befristungen nur noch bei sachlichen Gründen möglich sein. Schulz wolle außerdem die betriebliche Mitbestimmung auf Firmen mit europäischer Rechtsform (SE) ausweiten und den Kündigungsschutz für Beschäftigte, die Betriebsratswahlen organisieren, ausbauen. Der frühere Kommunalpolitiker soll im März auf einem Parteitag zum SPD-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten gewählt werden. Umfragen zufolge profitieren die Sozialdemokraten von Schulz und liegen teilweise vor der Union.

"Wir brauchen eine Vermögensteuer"

Er wolle „alles Menschenmögliche tun, was Gerechtigkeit sichert oder mehr Gerechtigkeit schafft“, hat Schulz angekündigt. Vertreter der Parteilinken sehen das Bekenntnis zum Ziel der sozialen Gerechtigkeit als Ermutigung für ihre Forderung nach einer Vermögensteuer. „Wir brauchen eine Vermögensteuer, eine Reform der Erbschaftsteuer, einen höheren Spitzensteuersatz“, verlangt Mattheis.

Dabei hatte Parteivize Thorsten Schäfer-Gümbel, der für den Parteivorstand das Steuerthema koordiniert, Plänen für eine Vermögensteuer kürzlich eine Absage erteilt. Schulz selbst hat bisher nur erklärt, er wolle bei der Besteuerung von großen Vermögen „nachlegen“ – auf Instrumente, Eckdaten oder Prozentwerte aber hat er sich noch nicht festgelegt.

Während Mattheis für ihre Gruppe DL21 öffentlich Forderungen an Schulz stellt und den seit Anfang 2015 laufenden Programmprozess mit der Ausrufung der Kandidaten für wieder völlig offen erklärt („Alles geht zurück auf null“), zeigen die weit einflussreicheren Flügelorganisationen „Seeheimer Kreis“ und „Parlamentarische Linke“ (PL) keine Neigung, dem Wunschkandidaten auf dem Umweg über die Presse inhaltliche Vorgaben zu machen – auch auf Nachfrage nicht.

Der Kanzlerkandidat Schulz gilt als Pragmatiker

Gemeinsam mit Schulz haben sich die parteiinternen Gegenspieler darauf geeinigt, ihre Streitpunkte intern zu besprechen. Der designierte Kandidat habe Seeheimer und PL ermutigt, ihm ihre Prüfsteine vorzustellen, heißt es in der SPD. Für eine Partei, in der Bekenntnistreue oft mehr zählt als die eigenen Wahlchancen, ist das ein bemerkenswerter Vorgang. Der Vorteil des Verfahrens: Wenn Schulz Streitfragen intern moderiert, kann er Kompromisse vorschlagen und muss nicht fürchten, auf dem auf Juni verschobenen Programmparteitag Abstimmungsniederlagen zu riskieren.

Dabei geht es vor allem um Verteilungsfragen, also um Geld – konkret um die Themen Steuern, Rente und Bürgerversicherung. So drängt die PL etwa darauf, das Rentenniveau weiter zu heben – auch mit dem Argument, es gehe um die Glaubwürdigkeit der SPD.

Schulz selbst gilt als Pragmatiker, der Zeit seines Lebens Distanz zum linken Flügel der Partei hielt – erst im Oktober 2016 trat er zum ersten Mal auf einem Kongress dieses Flügels auf („Das ist meine Jungfernrede bei den SPD-Linken“). Mit Blick auf die pragmatische Grundorientierung von Schulz mahnt Seeheimer-Sprecher Johannes Kahrs: „Wichtig ist, dass das Programm zum Kandidaten passt.“

Am Montag wird Schulz beim Kongress „Arbeit der Zukunft – Gestaltung der digitalen Arbeitswelt“ in Bielefeld mit Vertretern der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) und vielen Betriebsräten zusammentreffen. Gemeinsam mit den Jusos, der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen und der AG 60 plus hat die AfA kürzlich ein zehnseitiges Forderungsprogramm zur Bundestagswahl verabschiedet. Auch die Vermögensteuer findet sich darin.

Nun erwarten die Arbeitnehmer-Vertreter, dass der designierte Kandidat in Bielefeld deutlich wird. „Martin Schulz hat sich in der Gerechtigkeitsfrage klar positioniert“, sagt Afa-Chef Klaus Barthel. „Ich glaube, dass er seine Vorstellungen im Bereich Arbeitnehmerpolitik konkretisieren wird, vor allem bei der Gestaltung der Arbeit, der Mitbestimmung und der sozialen Absicherung.“

Nicht nur die SPD wird genau hinhören, wenn Schulz in Bielefeld spricht, sondern auch die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft. „Ich sehe mit Sorge, dass in der Politik zu viel darüber geredet wird, wie sich umverteilen lässt, und viel zu wenig darüber, wie sich Wohlstand durch Wachstum schaffen lässt“, warnt BDI-Chef Dieter Kempf. In unsicheren Zeiten, in denen protektionistische Tendenzen die Weltwirtschaft bedrohten, sei das gefährlich, sagt der Industrie-Repräsentant und fordert: „Jetzt muss die Politik mehr Wirtschaft wagen.“

Die Arbeitgeber sehen das ganz ähnlich. Vor einer Phase der Unsicherheit sei unbedingt wieder mehr Wettbewerbsfähigkeit nötig, sagt BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter und wünscht sich, dass das SPD-Programm der Wirtschaft nicht neue Vorschriften auferlegt. „Jetzt die Betriebe ohne kluge Begründung mit Kostensteigerungen zu belasten, wäre fahrlässig.“

Für den designierten SPD-Kanzlerkandidaten heißt das: Er muss sich entscheiden. Umso konkreter die Aussagen von Schulz zum Wahlprogramm ausfallen, umso mehr wächst aber auch die Gefahr, dass er Erwartungen enttäuschen wird.

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