Nordrhein-Westfalen und der Bund: Schulz' Debakel ist Merkels Erfolg
Herzkammer? Ist jetzt Geschichte. Die SPD hat vieles falsch gemacht - nicht nur in Nordrhein-Westfalen. Ihr Parteichef will einen Neustart am Montag. Doch der Vorsprung der Kanzlerin wächst.
Nächstes Jahr machen sie Prosper Haniel dicht. Noch fahren die Kumpel ein im Bottroper Norden; noch brechen Meißel die schwarzglänzende Steinkohle aus dem Flöz tausend Meter unter Tage, vor Ort, dort wo es staubig und heiß hergeht. Aber nächstes Jahr ist der Bergbau im Ruhrgebiet Geschichte, und seine Spezialbegriffe werden zu Floskeln herabsinken, deren Ursprung bald keiner mehr kennt. Nur die Sozialdemokraten werden weiter auf ihren Parteitagen aufstehen und singen, dass der Steiger kommt. Vielleicht steckt doch mehr dahinter als ein Zufall bei dem, was da gerade passiert in Nordrhein-Westfalen mit der Zeche Prosper und mit der SPD.
Hannelore Kraft ist wachsweiß im Gesicht, als sie in Düsseldorf auf die Tribüne steigt. „Das ist kein guter Tag für die Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen“, sagt sie. Kraft muss damit gerechnet haben, dass sie nach diesem Sonntag nicht mehr Ministerpräsidentin sein wird. Aber derart brutal vom Wähler vom Hof gejagt ...
Ihr bleibt jetzt nur ein letzter Dienst für die Partei und für den Mann, auf dem deren ganze Hoffnung ruht. Sie muss die Schuld auf sich nehmen. Ja, sie war es, die die Bundespolitiker gebeten hat, sich rauszuhalten aus diesem Wahlkampf. Sie hat geglaubt, dass sie das größte Bundesland ganz alleine verteidigen kann. „Es hat nicht gereicht“, sagt Kraft. Dann tritt sie von allen Ämter zurück, Landesvorsitz, stellvertretender Bundesvorsitz, mit sofortiger Wirkung, „Glück auf“.
Im Foyer des Willy-Brandt-Hauses in Berlin brandet genau in diesem Moment Beifall auf. Es ist der erste des Abends, ein leicht absurder Applaus für die Frau auf den großen Fernsehschirmen; aber irgendwie müssen sie dem Frust und dem Entsetzen ja Luft verschaffen. Sehr still und starr war es in der SPD-Zentrale, als um 18 Uhr auf den gleichen Bildschirmen die Prognose für die Landtagswahl zu sehen war. 34,5 Prozent für die CDU. 30,5 Prozent für die SPD.
Landesthemen und Rückenwind aus Berlin
Gequältes Aufstöhnen, leere Gesichter; viele schütteln nur stumm den Kopf. Das ist das schlechteste Ergebnis der gesamten Landesgeschichte seit 1947. Vier Jahrzehnte haben sie regiert, mit nur einer kurzen Unterbrechung. „Herzkammer der Sozialdemokratie“ nennen sie selbst das Land an der Ruhr, wo früher die Schlote rauchten und der Himmel nachts kilometerweit rot aufglühte beim Hochofenabstich. Ist jetzt Geschichte.
Ein paar Kilometer weiter im Konrad-Adenauer-Haus geben sich derweil die Wahlsieger die Mikrofone in die Hand. Als erster taucht Daniel Günther im Foyer auf und verkündet zeitgemäße Wahrheiten. „Wir haben uns nicht aus der Ruhe bringen lassen“, sagt der neue CDU-Star aus Kiel, und dass ansonsten die Parteifreunde in NRW mit dem gleichen Rezept Erfolg gehabt hätten wie er selbst in Schleswig-Holstein: die richtigen Landesthemen, um der Regierung einzuheizen, und der Rückenwind aus Berlin, der habe natürlich auch geholfen.
Als nächste steht Annegret Kramp-Karrenbauer vor den Kameras. „Wir haben bewiesen: Wenn wir geschlossen kämpfen, können wir Wahlen gewinnen“, sagt die Frau von der Saar, mit deren Triumph die CDU-Siegesserie begann. Und das sei natürlich auch ein Erfolg „von und für Angela Merkel“.
Während sie das sagt, erscheint hinter ihr auf dem Bildschirm der Dritte im Bunde. „Das ist ein guter Tag für Nordrhein-Westfalen“, hört man Armin Laschet sagen, und dann tost der Jubel in Düsseldorf aus den Fernsehlautsprechern bis nach Berlin.
Laschets Erfolg galt als nachgerade unwahrscheinlich
Die CDU hat schon manchen unerwarteten Wahlsieger erlebt. Laschet galt bis vor kurzem als nachgerade unwahrscheinlich. Aber der joviale Rheinländer hat alles richtig gemacht in diesem Wahlkampf und seine Gegnerin ziemlich viel falsch. Kraft hat sich über- und den Angreifer unterschätzt; so kommt dann eins zum anderen. „Gegen die Schlusslicht-Kampagne hat die Kraft einfach nichts setzen können“, sagt ein CDU-Funktionär. Laschet hat in seinen Wahlreden dauernd vorgerechnet, dass NRW überall Schlusslicht sei, speziell beim Kampf gegen Einbrecher und solche wie den Terroristen Anis Amri. Kraft kam aus der Defensive nie richtig raus.
Jetzt wird der kleine Armin Laschet aus Aachen also Ministerpräsident; der „Türken-Laschet“, wie sie ihn abschätzig in der Zeit als Integrationsminister in der Regierung von Jürgen Rüttgers von 2005 bis 2010 nannten. Schöner konnte es für Angela Merkel wirklich nicht kommen. Laschet stand in der Flüchtlingskrise fest an ihrer Seite, so wie Kramp-Karrenbauer.
In der CDU haben sich gerade ein paar Gewichte verschoben. Nur in einem ist Laschet der Alte geblieben: Ganz glatt ist bei ihm nichts verlaufen, auch diesmal nicht. Am Abend muss er noch um sein Mandat im eigenen Wahlkreis zittern. Ohne Mandat kein Ministerpräsident, das steht so in der Landesverfassung. Am Ende reicht es knapp. Notfalls hätte jemand verzichten müssen, damit er per Landesliste in den Landtag kommt. Aber das bleiben doch vergleichsweise Kleinigkeiten. „Das ist ein toller Tag für die CDU“, ruft Generalsekretär Peter Tauber und beschließt seine kurze Ansprache mit einem forschen „Hurra!“
Drüben bei der SPD muss Ralf Stegner als erster vor die Kameras. Der SPD-Bundesvize hat inzwischen Erfahrung mit der Kommentierung von Niederlagen. Der Tiefschlag vor einer Woche in Schleswig-Holstein traf ihn als Landesvorsitzenden direkt. Der Tiefschlag an der Ruhr ist aber von ganz anderer Wucht. „Der Boxer SPD hat einen Leberhaken bekommen“, sagt Stegner und sieht dabei derart zerknautscht drein, dass man unwillkürlich denkt, der Mann hat das Ding persönlich abbekommen. „Aber er steht noch“, fährt Stegner fort. Ob die Betonung auf dem Stehen liegt oder dem „noch“, lässt sich nicht ohne Weiteres ausmachen.
Unten im Foyer beginnt die taktische Schadensbegrenzung. Verpasst in Düsseldorf die Linke die Fünf-Prozent-Hürde? Dann langt es da für Schwarz-Gelb. „Ganz klar, alles wäre besser, als wenn wir den Juniorpartner in einer CDU-geführten NRW-Regierung geben müssten“, sagt einer aus dem Parteivorstand. „Denn das wäre ein fatales Signal für die Bundestagswahl.“ Es sähe nämlich aus wie eine Voraussage für den Mann, auf den sie alle ihre Hoffnung werfen.
Schulz kritisiert die Martin-Festspiele in den Medien
Kraft ist kaum von den Bildschirmen verschwunden, da entert Martin Schulz mit schnellen Schritten die Bühne. Nun klatschen sie zum zweiten Mal. Es klingt trotzig: Jetzt erst recht. „Liebe Genossinnen und Genossen…“, beginnt der Parteichef, dann muss er sich unterbrechen: die Stimme. Schulz kann sich nicht gut verstellen. Er räuspert sich hörbar, dann erst geht es weiter: „ … liebe Gäste!“
So hatte er sich das nun wirklich nicht vorgestellt, als er erst Kanzlerkandidat der SPD wurde und dann für ein paar rauschhafte Wochen ihr Abgott. Diesmal hält niemand Plakate mit Sinnsprüchen in die Luft wie „Jetzt ist Schulz“ oder dergleichen. „Es ist ein schwerer Tag für die SPD und für mich selbst“, sagt er. „Ich stamme aus dem Land, in dem wir eine krachende Wahlniederlage erlitten haben.“ Hannelore Kraft habe „wie eine Löwin“ gekämpft, „bis zur Selbstaufgabe“. Über Krafts Fehler redet er nicht, das hat sie mit ihrem Rückzug zur großen Erleichterung vieler im SPD-Führungsteam ja dankenswerterweise selbst erledigt.
Aber waren es nur Krafts Fehler? Schulz räumt ein, dass sich wohl Dinge ändern müssen. Anfangs die „Überpräsenz von mir in den Medien“, wie er die Martin-Festspiele in einem Fernsehinterview nennt, dann folgte lange nichts ... „Wir werden auf jeden Fall unser Programm konkretisieren.“ Und ja, Gerechtigkeit sei wichtig, aber Innovation schon auch. Andere Genossen werden deutlicher, wenn auch nur abseits der Kameras. Von „einer Phase der Lähmung und Nicht-Positionierung“ spricht ein Sozialdemokrat im Foyer des Willy-Brandt- Hauses, die nun „ganz schnell vorübergehen“ müsse. „Ab morgen muss inhaltlich ein Feuerwerk auf das andere folgen.“
"Jetzt brauchen wir 100 Prozent Schulz - und drei, vier Themen"
Nur – wie zünden, und wo? Schulz hat kein Amt, jeder Auftritt muss für ihn in Szene gesetzt werden und sieht dann schnell nach Inszenierung aus. Und apropos Feuerwerk: Hätte man den Schulz-Hype, diesen manischen Jubel für den sozialdemokratischen Erlöser aus Würselen, nicht wenigstens bremsen sollen? War der harte Aufprall in der Realität nicht absehbar? Ist das Team um Martin Schulz richtig zusammengesetzt, in dem niemand Erfahrung in der Organisation von Bundestagswahlkämpfen mitbringt? Und war Schulz klug beraten, als er Krafts Drängen nachgab, sich zurückzuhalten – was, weil es mit der Niederlage an der Saar zusammenfiel, für das breite Publikum doch geradezu zwangsläufig nach frühzeitiger Resignation aussehen musste? Plan A mit dem Durchmarsch misslungen, kein Plan B in der Tasche?
Die Bilanz des Kanzlerkandidaten nach dreieinhalb Monaten jedenfalls ist vernichtend: Drei Landtagswahlen verloren, Selbstzweifel in der Mannschaft, handwerkliche Fehler gemacht, die Augenhöhe zur Kanzlerin verloren. Am Montag soll der Parteivorstand über einen Neustart reden und über Programmbausteine. „Jetzt brauchen wir 100 Prozent Schulz und drei, vier Themen, die er stark machen muss“, sagt ein Vorstandsmitglied.
Die Kanzlerin hat jetzt einen Vorsprung
An Aufgeben denkt keiner, Schulz selbst auch nicht. Stegners Leberhaken-Bild gefällt ihm. „Stramm im Ring, wie wir nun einmal sind, geht es nun in die letzte und entscheidende Runde, und am Ende wollen wir mal sehen, wem der Ringrichter, das sind die Wählerinnen und Wähler, den Arm hebt.“ Das ist ein langer Satz, viel länger als das schlichte „Ich will Bundeskanzler werden“ vor ein paar Wochen.
Denn den Leberhaken abgekriegt hat ja, um im schiefen Bild zu bleiben, die Herzkammer der Sozialdemokratie. Als das das letzte Mal passierte, hat Gerhard Schröder vor Schreck Neuwahlen angesetzt. Vielleicht muss man sich daran noch einmal erinnern, um das Ausmaß der Katastrophe zu ermessen. NRW, das ist ein Drittel der Wähler in ganz Deutschland, die Hochburg der SPD und ihr Stimmenbringer für den Bund. Bleibt es hier bei 30 Prozent, kann Schulz Berlin vergessen. Noch hat Angela Merkel nicht gewonnen, ihr General Peter Tauber hat die eigenen Truppen gemahnt: Heute feiern, morgen wieder an die Arbeit. Aber wenn man die letzten Wochen zusammennimmt, hat die Kanzlerin jetzt drei große Schritte Vorsprung. Mindestens.
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