Austritt aus der EU: Schottische Regierungschefin warnt vor „blindem Brexit“
Angesichts des unsicheren Ausgangs der Brexit-Verhandlungen wächst die Nervosität in Schottland: Die Regionalchefin Sturgeon verlangt von Premierministerin May, Klarheit über die künftigen Handelsbeziehungen mit der EU zu schaffen.
Die britische Regierungschefin Theresa May verfolgt derzeit ein ausgedünntes sommerliches Politik-Programm. In der vergangenen Woche machte sie mit ihrem Mann Philip Urlaub in Italien, und demnächst geht es zum Wandern in die Schweiz. Zwischendurch stehen in dieser Woche ein paar Termine in der Heimat an. An diesem Dienstag will May die Chefin der schottischen Regionalregierung, Nicola Sturgeon, in Edinburgh treffen.
Eigentlich könnte dies ein angenehmer Termin sein, denn schließlich soll unter anderen eine Förderung in Höhe von insgesamt 600 Millionen Pfund (umgerechnet 673 Millionen Euro) für die Spitzenforschung an den drei Universitäten in Edinburgh besiegelt werden. Mit der millionenschweren Hilfe soll sichergestellt werden, dass Schottland auch nach dem Brexit eine prosperierende Region bleibt.
Keine Verschnaufpause für May
Allerdings lässt der EU-Austritt Großbritanniens derzeit keine politische Verschnaufpause für May zu. Schon vor dem Besuch in Edinburgh warf ihr die schottische Regionalchefin Sturgeon vor, keine Klarheit beim Brexit zu schaffen. Statt dessen, so lautet der Vorwurf der Vorsitzenden der schottischen Nationalisten-Partei SNP, lasse May die Diskussion um ein mögliches Scheitern der Austrittsverhandlungen laufen - mit der Gefahr, dass sich die Prophezeiung eines „No Deal“ bestätigt.
Die Schotten haben beim EU-Referendum im Juni 2016 für einen Verbleib in der Europäischen Union gestimmt. Um auch künftig eine möglichst enge Anbindung an die Europäische Union zu garantieren, solle Großbritannien im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion bleiben, verlangt Sturgeon. Allerdings ist ein solcher „weicher Brexit“ mit den Hardlinern in Mays Tory-Partei nicht zu zu machen.
"Ziellos" durch die Übergangsperiode?
Weil immer noch unklar ist, wie das künftige wirtschaftliche Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien gestaltet werden soll, wächst auch die Nervosität in Schottland. Sturgeon warnte davor, dass ein „blinder Brexit“ Jobs und Investitionen auf der Insel genauso gefährden könne wie ein „No Deal“-Szenario. Mit einem „blinden Brexit“ ist gemeint, dass Großbritannien zwar mit der EU eine Austrittsvereinbarung über die finanziellen Modalitäten der Scheidung, die Rechte der EU-Bürger und die Lösung der irischen Frage schließt, aber ansonsten die Frage der künftigen Handelsbeziehungen komplett offengelassen wird. Nach den Worten von Sturgeon besteht die Gefahr, dass Großbritannien in diesem Fall „ziellos“ durch die geplante knapp zweijährige Übergangsperiode nach dem Brexit im März des kommenden Jahres steuern würde.
Ginge es nach May, dann würde Großbritannien zwar weiter wie bisher einen zollfreien Handel mit Industriegütern innerhalb des EU-Binnenmarktes betreiben. Für Dienstleistungen soll dies aber nicht gelten, und auch die Personenfreizügigkeit soll nach den Plänen von Mays Brexit-Weißbuch eingeschränkt werden. Die EU sieht darin allerdings „Rosinenpickerei“. Als härteste Nuss gilt in den Verhandlungen derweil die Frage, wie eine Lösung für Irland aussehen kann. Beide Seiten sind sich einig, dass eine „harte Grenze“ zwischen dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland und der Republik Irland vermieden werden soll. Aber da hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf: Während die EU als Rückfallposition die Errichtung einer Zollgrenze zwischen Nordirland und der britischen Insel festschreiben möchte, lehnt May dies vehement ab.
Am Wochenende sprach der britische Handelsminister Liam Fox bereits davon, dass die Wahrscheinlichkeit, dass beide Seiten ohne Abkommen auseinander gingen, bei 60 Prozent liege. Am Amtssitz der Premierministerin hieß es dazu lediglich, dass man nach wie das Zustandekommen einer Vereinbarung für das wahrscheinlichste Szenario halte. Allerdings müsse man sich auf „alle Möglichkeiten“ einstellen.
Keine baldige Neuauflage des Unabhängigkeits-Referendums
Zu den Szenarien, die den Brexit-Prozess so unübersichtlich machen, gehört auch die Möglichkeit, dass Sturgeon ein weiteres Referendum über die schottische Unabhängigkeit abhält. Allerdings hält der britische Politikwissenschaftler John Curtice es für unwahrscheinlich, dass eine solche Volksabstimmung in naher Zukunft abgehalten wird. Curtice erinnerte in einem Gespräch mit der Zeitung „The Scotsman“ daran, dass Schottlands Erste Ministerin Sturgeon zunächst einmal Klarheit über die künftigen Handelsbeziehungen haben wolle – und dies werde wohl vor Anfang des kommenden Jahres nicht der Fall sein. Zudem gebe es derzeit in Schottland gar keine Mehrheit für die Eigenständigkeit – wie schon beim ersten Unabhängigkeitsreferendum im Herbst 2014.