Bilanz zum G20-Gipfel in Hamburg: Scholz: "Verrohung, die ich völlig inakzeptabel finde"
Hamburg hat schwere Gewaltausbrüche erlebt. Bundespräsident Steinmeier verteidigt die Hansestadt als G20-Standort, der Bürgermeister lobt den Einsatz der Polizei.
Pressekonferenz im Video: Die Bilanz der Polizei zum G20-Gipfel
Das Wichtigste aus der Pressekonferenz
Die Polizei in Hamburg hat nach Darstellung von Innensenator Andy Grote nicht mit der Brutalität der Linksautonomen bei den Krawallen rund um den G20-Gipfel gerechnet. Man habe es mit „skrupellosen Gewaltakten von Kriminellen“ zu tun gehabt, die man nicht vorhergesehen habe, sagte der SPD-Politiker am Sonntag in Hamburg. Die drei Gipfeltage hätten den Einsatzkräften „alles, aber wirklich auch alles abverlangt“. Grote betonte: „Das war ein gesamtdeutscher Polizeieinsatz.“
Hamburgs Regierungschef Olaf Scholz (SPD) sagte: „Wir haben schlimme Bilder gesehen. Und diesen schlimmen Bildern liegen schlimme Taten zugrunde.“ Er zeigte sich betroffen, dass über den Kreis der brutalen Gewalttäter hinaus viele Menschen an den Krawallen beim G20-Gipfel teilgenommen haben. Man habe erlebt, „dass es ganz viele gibt, die dann auf dieser Welle mitgeritten sind“. Sie hätten offenbar in einer „Partylaune“ Flaschen auf Polizeibeamte geworfen, Geschäfte zerstört und geplündert.
Diese Veränderung der Alltagsrealität in der Gesellschaft dürfe man nicht einfach als „Zeitgeist“ so hinnehmen. „Das ist eine Verrohung, die ich völlig inakzeptabel finde, und gegen die wir uns gemeinsam stellen sollten.“ Scholz kündigte eine Regierungserklärung in der Hamburger Bürgerschaft zu den Vorgängen an. Er räumte ein, dass es nicht gelungen sei, so für Sicherheit zu sorgen, wie man sich das vorgestellt habe. „Das erschreckt - jeden, mich auch. Das bedrückt - jeden, mich auch.“
Polizeipräsident: "Keine Schlafstätten für militante Extremisten"
Polizeipräsident Ralf Martin Meyer zog eine gemischte Bilanz zum Polizeieinsatz. Er sei stolz, dass es bei dem bisher größten Einsatz der Hamburger Polizei gelungen sei, die Sicherheit des Treffens „mit den zahlreichen Störversuchen“ bis zum Schluss zu gewährleisten. Ihn bedrücke aber, dass es nicht gelungen sei, Verletzungen der Einsatzkräfte zu vermeiden und den Schutz des Eigentums der Hamburger Bürger umfassend zu gewährleisten.
Mehr als 20.000 Beamte seien im Einsatz gewesen, erklärte Meyer. Es sei „alles, aber auch wirklich alles Menschenmögliche an Vorkehrungen getroffen“ worden. Mit Blick auf den juristischen Streit um Übernachtungscamps für G20-Kritiker betonte Meyer, für die Polizei sei es wichtig gewesen, „keine Schlafstätten für militante Extremisten“ in Hamburg zu haben; das sei letztlich aber nicht gelungen. Es sei schwierig, wenn „Täter ohne Bezug zum Gipfel“ an unterschiedlichen Stellen der Stadt in einer „Kleingruppentaktik“ agierten.
Einsatzleiter Hartmut Dudde gab an, dass bisher insgesamt 37 Haftbefehle gegen Verdächtige erwirkt worden seien.
Dritte Krawallnacht in Folge
Auch nach dem Ende des G20-Gipfels war es in Hamburg erneut zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen. In der Nacht zum Sonntag setzte die Polizei Wasserwerfer, Pfefferspray und Tränengas ein, um Sitzblockaden im Schanzenviertel aufzulösen. Randalierer warfen Flaschen, Steine oder Böller. Die Polizei meldete mehrere Festnahmen. Es seien auch Polizeibeamte verletzt worden. Wenn die Hundertschaften anrückten, zerstreuten sich die Gruppen oft und verstecken sich in Nebenstraßen. Sobald die Polizei sich aus einer Straße zurückzog, bauten sie neue Barrikaden auf und zündeten wieder Mülleimer an.
Mehrere Vermummte warfen Flaschen auf Häuser, aus denen ihnen „Haut ab“ entgegengerufen wurde. In mehreren Stadtteilen wurden der Polizei zufolge Autos in Brand gesetzt. Schwer bewaffnete Spezialeinsatzkräfte der Polizei zogen zeitweise am Rande des Schanzenviertels auf, griffen aber nicht ins Geschehen ein. Zum Morgen beruhigte sich die Lage deutlich. In der Nacht zum Samstag war es im Schanzenviertel zu schweren Krawallen und Plünderungen von Geschäften gekommen. Die Randalierer hatten zunächst mehrere Stunden lang freie Hand, bis die Polizei mit einem massiven Aufgebot samt Spezialeinsatzkräften einrückte.
Steinmeier lobt in Hamburg die Polizei
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeigte sich angesichts der schweren Krawalle schockiert. Was er gesehen habe, "erschüttert mich, das macht mich fassungslos", sagte Steinmeier am Sonntag bei einem Besuch in der Hansestadt. Ein solches Ausmaß an Gewalt auf Demonstrationen habe Deutschland in den vergangenen Jahren nicht erlebt. Einige seien mit "Rücksichtslosigkeit und maßloser Zerstörungswut" vorgegangen.
Steinmeier dankte ausdrücklich den Polizisten für ihren Einsatz. Sie verdienten nicht nur Anerkennung, sondern auch Dank. Sie hätten ihren Dienst für die Sicherheit geleistet und auch das Recht auf Versammlungsfreiheit geschützt. Der Bundespräsident verteidigte zudem die Organisation solcher Gipfeltreffen in Deutschland: „Ein demokratisch gefestigtes Land wie Deutschland sollte auch das Selbstbewusstsein haben und sagen: Jawohl, solche Konferenzen müssen nicht nur sein, sondern wenn sie sein müssen, dann können sie auch bei uns stattfinden, und wir werden das garantieren.“
Auf die Frage, ob die Sicherheitslage vor dem Treffen der großen Wirtschaftsnationen am Freitag und Samstag unterschätzt worden sei, sagte Steinmeier, in den Medien sei vor der Konferenz gewarnt worden, „dass Hamburg eine Chance auslässt, wenn hier nicht ein großes, internationales Volksfest gefeiert wird“. Zudem habe es geheißen, die Stadt schotte sich zu sehr durch übertriebene Sicherheitsmaßnahmen ab. Deshalb solle man „jetzt auch mit Maß und Erinnerung an das, was vor dem G20-Gipfel gesagt und geschrieben wurde, an die Beurteilung im Nachhinein herangehen“.
Scholz über Taktik der Polizei: "Heldenhafter Einsatz"
Olaf Scholz verteidigte beim gemeinsamen Auftritt mit dem Bundespräsidenten erneut den Polizeieinsatz. Dieser sei eine "große Leistung" gewesen, sagte Scholz. Er weise jede Kritik an den Leistungen der Polizisten "mit großer Entschiedenheit" zurück. Diese hätten "alles richtig gemacht" und einen "heldenhaften Einsatz" gezeigt. Scholz dankte zudem den Hamburger Bürgern, „die nicht weniges erdulden mussten“. Angesichts angezündeter Autos, beschädigter Häuser und geplünderter Läden fügte er hinzu: „Das alles darf nicht stattfinden. Das ist unverzeihlich und unvertretbar.“
Er hoffe sehr, dass einige der Täter „sehr hohe Haftstrafen“ kassieren würden. „Das haben sie nämlich wirklich verdient. Es sind die Gewalttäter, die mit unvorstellbarer Brutalität vorgegangen sind. Und gegen die muss sich unser gemeinsamer Zorn richten.“ Gemeinsam mit dem Bund werde die Stadt Hamburg alles für eine schnelle Entschädigung der Betroffenen tun.
Brennpunkt Schanzenviertel
Bundesinnenminister Thomas de Maizière verteidigte ebenfalls die Vorgehensweise der Polizei. „Bei diesem Ausmaß an völlig enthemmter Gewalt, die nur darauf gerichtet ist, willkürlich möglichst große Schäden auch bei völlig unbeteiligten Bürgern zu verursachen, kann trotz aller Konsequenz und auch bei bester Vorbereitung nicht jede Ausschreitung erfolgreich sofort unterbunden werden“, sagte er der „Bild am Sonntag“. Man habe erst „robuste Kräfte heranführen“ müssen.
Jetzt, in der dritten Nacht der gewalttätigen Proteste, griff die Polizei frühzeitig durch. „Unbeteiligte sollten sich unbedingt aus dem Bereich entfernen“, warnte sie. Die Räumung der Straßen im Schanzenviertel wurde mit Angriffen auf Einsatzkräfte begründet. Zudem seien bei einer Sparkassen-Filiale Fenster zu Bruch gegangen. Der S-Bahn-Verkehr in der Innenstadt war erneut zeitweilig gestört, dann wurden alle Sperrungen aufgehoben.
Im Schanzenviertel hatten sich am Samstagabend wieder mehrere hundert Menschen versammelt. Die Polizei sprach von etwa 600 Personen, die sich auf dem Neuen Pferdemarkt und in der Straße Schulterblatt aufhielten, wo es am Vorabend zu den Krawallen gekommen war. Seit Beginn der Auseinandersetzungen rund um den G20-Gipfel wurden nach Angaben der Polizei bisher 476 Beamte, darunter auch Bundespolizisten, verletzt. Insgesamt wurden 186 Menschen fest- und 225 weitere in Gewahrsam genommen.
In der Gefangensammelstelle in Hamburg-Harburg befanden sich nach Angaben der Rechtsanwältin Gabriele Heinecke am Samstagabend 290 Personen. Sie kritisierte, dass es massive Probleme gebe, ihnen die Nummer des anwaltlichen Notdienstes zu geben. „Stattdessen werden Telefonbücher hingelegt mit der Aufforderung, sich einen Anwalt herauszusuchen.“ Im wesentlichen seien die Anträge auf Haftbefehle von den Gerichten zurückgewiesen worden, dafür sei Gewahrsam bis Sonntag zwischen 15.00 und 18.00 Uhr ausgesprochen worden, sagte sie.
Gabriel warnt vor Imageschaden
Am Hamburger Hauptbahnhof fuhr ein Sonderzug los, der G20-Gegner in Richtung Basel bringen sollte. Die Abfahrt verzögerte sich um gut eine Stunde, weil die Polizei die Personalien von Mitfahrenden aufnehmen und Videos von ihnen machen wollte. Mit der Maßnahme sollte nach mutmaßlichen Straftätern gesucht werden. Letztlich kontrollierten die Beamten nur oberflächlich. Festnahmen gab es nicht.
Die Diskussion um Hamburg als Austragungsort des G20-Gipfels ging indes weiter. „Aus unserer Sicht eine Fehlentscheidung, die von Anfang an umstritten war“, erklärte die Gewerkschaft der Polizei Bayern am Samstagabend. Mit dem Ausmaß an Hass und Gewalt habe niemand gerechnet: „Unsere Einsatzkräfte, auch aus Bayern, mussten um Leib und Leben fürchten.“ Unter anderem de Maizière hatte zuvor die Kritik an der Auswahl Hamburgs zurückgewiesen: „Es können nicht Demonstranten bestimmen, wohin die Bundeskanzlerin Staats- und Regierungschefs aus der ganzen Welt einlädt.“
Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) warnte, dass die Hamburger Krawalle dem Ansehen des Landes in der Welt schaden. „Deutschlands Bild in der internationalen Öffentlichkeit wird durch die Ereignisse in Hamburg schwer in Mitleidenschaft gezogen“, schrieb Gabriel in einem Gastbeitrag in der „Bild am Sonntag“. Alle angeblichen politischen Motive seien nur ein Deckmantel, während es den Tätern nur um Gewalt an sich gegangen sei. „Die Täter unterscheiden sich überhaupt nicht von Neonazis und deren Brandanschlägen. Mit angeblich „linken Motiven“ hat das alles nichts zu tun“, erklärte Gabriel. (mes, dpa, AFP)