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Angestrahlt von der Sonne - das Brandenburger Tor.
© Paul Zinken, dpa

Nach Anschlag in St. Petersburg: Schluss mit dem Trauerritual am Brandenburger Tor!

Willkür erzeugt Willkür. Gerechte Trauer gibt es nicht. Deshalb sollte Berlins Wahrzeichen nach Terroranschlägen gar nicht mehr angestrahlt werden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Auf Wikipedia gibt es eine Liste mit Terroranschlägen. Sie ist sehr lang. Allein im Jahr 2016 wurden 111 solcher Anschläge verübt, in diesem Jahr waren es bereits 32. Gegliedert ist die Liste nach betroffenem Land, dem Täter, der politischen Ausrichtung, dem Mittel, dem Ziel, der Zahl der Toten und Verletzten. Am 8. März etwa kamen bei einem Anschlag auf das Militärkrankenhaus in Kabul (Afghanistan) 30 Menschen ums Leben. Am 15. Februar starben acht Menschen nach einer Messerattacke in Xinjiang (China). Am 21. Januar tötete eine Bombe, die in einer Gemüsekiste auf dem Markt in Parachinar (Pakistan) versteckt worden war, 20 Menschen, 50 weitere wurden verletzt.

Zu keinem dieser Anlässe wurde das Brandenburger Tor in den Flaggenfarben des betroffenen Landes angestrahlt. Denn das Trauerritual wird selektiv inszeniert. Es muss eine besondere Nähe zu den Opfern spürbar sein, heißt es. Ende März hatte die Berliner Senatskanzlei verfügt, dass nur noch infolge „eines Terroraktes in einer Partnerstadt das Brandenburger Tor angestrahlt wird“. Deshalb unterblieb diesmal, nach dem Anschlag in der Metro von St. Petersburg, die Trauerprojektion auf das Wahrzeichen der Stadt. Das riecht nach Willkür. Orlando und Jerusalem sind auch keine Partnerstädte Berlins. Das aber seien Orte, „zu denen Berlin eine besondere Beziehung hat“, sagt die Senatskanzlei. Daher sei das Brandenburger Tor nach Anschlägen dort durchaus angestrahlt worden.

Ich bin ebenfalls gegen die Trauer per Farbenprojektion aufs Brandenburger Tor. Aber nur, weil ich darin keine Trauersymbolik sehe, sondern eher Betroffenheitskitsch.

schreibt NutzerIn crossoverhill

111 Terroranschläge allein im Jahr 2016

Willkür erzeugt Willkür. Gerechte Trauer gibt es nicht. Kopenhagen und Stockholm etwa sind keine Partnerstädte Berlins, dafür aber Taschkent, die Hauptstadt Usbekistans, und Windhoek, die Hauptstadt Namibias. Soll man, in einem potenziellen Terrorfall, der einen Toten nicht gedenken, der anderen ja? Das wäre absurd. Besonders tragfähig ist auch das Kriterium großstädtischer Verbundenheit nicht. Sind den Berlinern mögliche Opfer in einer U-Bahn in Schanghai näher als Teilnehmer an einem Dorffest in der belgischen Provinz?

So kommt zur Trauer über den Terror und dessen Opfer die ernüchternde Erkenntnis, dass diese Trauer von der öffentlichen Hand nicht geregelt werden kann. 111 Terroranschläge im Jahr 2016: Wollte man aller Opfer gedenken, müsste das Brandenburger Tor im Durchschnitt an jedem dritten Tag angestrahlt werden. Jede Auswahl aber setzt sich dem Verdacht aus, in ein der Trauer würdiges und ihrer weniger würdiges Ritual zu unterscheiden.

Die Konsequenz daraus kann nur heißen, das Brandenburger Tor nach Terroranschlägen gar nicht mehr anzuleuchten. Jedem Einzelnen bleibt es unbenommen, an öffentlichen Orten Kerzen zu entzünden oder Blumen abzulegen. Verstecken muss sich die Trauer nicht. Aber als verordneter Akt gerät sie in Aporien. Schluss damit!

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