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Hans-Christian Ströbele gehörte 1978 zu den Mitbegründern der Alternativen Liste, des späteren Landesverbands der Grünen in Berlin.
© dpa

Hans-Christian Ströbele über Missbrauch bei den Grünen: "Schämen ist nicht meine Reaktion"

Der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele erklärt den Umgang mit Kindesmissbrauch in seiner Partei: "Die Opfer von sexuellem Missbrauch hatten wir nicht oder viel zu wenig im Blick."

Herr Ströbele, waren Sie überrascht über die Deutlichkeit, mit der sich die Berliner Parteichefs Wesener und Jarasch von der pädophilen Blindheit der Grünen in den 80er und 90er Jahren distanziert hatten?

Ich hatte vorher auch mit der Kommission Aufarbeitung der Berliner Grünen gesprochen. Deswegen haben mich die klaren Worte nicht überrascht.

Was wussten Sie als AL-Mitbegründer von den pädophilen Strukturen der AL?
Ich war Mitgründer der AL, aber danach nicht Mitglied, weil mir die KPD-AO, eine kommunistische Gruppe, in der AL zu dominierend war. Erst sehr viel später wurde ich Mitglied, als ich für die Bundestagswahl 1983 zum Nachrücker nominiert wurde. Mit Pädophilen bin ich nicht in der Alternativen Liste, sondern zuerst in der „taz“ konfrontiert worden, als die Indianerkommune aus Nürnberg die Zeitung besetzte. Diese Kommune propagierte einverständliche Sexualität mit Kindern. Als ich im Bereich demokratische Rechte der AL tätig war, bin ich wohl Mitte der 80er mit der Forderung konfrontiert gewesen, den Pädophilen-Paragrafen abzuschaffen. Aber an mehr erinnere ich mich nicht, auch nicht, ob ich jene Personen getroffen habe, über die jetzt geschrieben wird.

Aber Dieter Ullmann, ein strafrechtlich verurteilter Täter, war doch auch in der Bundespartei der Grünen aktiv und bekannt? 

Die Namen sagen mir nichts, und ich erinnere auch keine Personen. Es ging um Debatten, was man ins Wahlprogramm reinschreibt. Ich war der Auffassung, dass Sexualität mit Kindern, auch wenn das als einvernehmlich dargestellt wurde, nicht richtig ist, weil es immer ein Machtgefälle und Abhängigkeitsgefälle gibt.

Wenn die AL 1981 zehn statt nur acht Prozent der Stimmen erhalten hätte, wäre Ullmann ins Abgeordnetenhaus gerückt. Und Sie erinnern sich nicht an diese Person?
Ich wusste gar nicht, wer alles kandidiert, und war an der Listenaufstellung nicht beteiligt. Ich behaupte nicht, dass ich den nie gesehen habe oder damals nicht kannte, aber mir sagt der Name nichts. Ich erinnere mich auch an keinerlei Diskussion mit ihm.

AL-Frauen in Kreuzberg haben mehrfach auf pädophile Strukturen hingewiesen.
Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß, dass es dort eine starke Frauengruppe gab, aber ich hatte damals mit der AL in Kreuzberg nichts zu tun. Nach dem Parteieintritt war ich Mitglied in Tiergarten und nach 1987 dort in der BVV.

Haben Sie später nicht den Impuls gehabt, dass die Partei das alles aufklären muss?
Dieses Thema Pädophilie und die Frage, ob man das Sexualstrafrecht ändern sollte, war nicht ein Thema, was mich und andere Parteimitglieder ständig beschäftigt hatte. Es gab in den achtziger Jahren viele Diskussionen zu Straftätern und ob man Gefängnisse abschafft. Forderungen im Sexualstrafrecht waren ein kleiner Ausschnitt davon. Ich sage heute, es war ein großer Fehler, dass wir damals in Diskussionen über Strafrecht und Straftäter das Leid der Opfer viel zu wenig berücksichtigt haben. Für uns hatte es gesellschaftliche Ursachen, dass Menschen zu Verbrechern wurden, und wir dachten, Gefängnis mache Straftäter nicht besser, sondern führe allzu häufig zu schlimmeren und brutaleren Taten.

Sie haben ausschließlich die Täterperspektive berücksichtigt.
Ja. Das war ganz falsch. Die Opfer von sexuellem Missbrauch und von anderen schweren Straftaten hatten wir nicht oder viel zu wenig im Blick. Wir haben ohne Tabus und ohne Rücksicht auf die Opfer über alles diskutiert. Ich habe mich aber dafür eingesetzt, dass die Forderung nach Streichung der Strafbarkeit von Pädophilie nicht ins Programm kommt.

Ihr Parteifreund und Mitglied der Kommission Aufarbeitung, Wolfgang Wieland, sagte, es gebe ein persönliches Versagen aller, die Verantwortung getragen haben. Wir hätten eine persönliche Schuld, sagte er. Stimmen Sie ihm zu?
Ja, ich stimme ihm zu. Wir haben das Schicksal der Opfer viel zu wenig gesehen und berücksichtigt. Das war falsch und ein schwerer Fehler. Als Konsequenz daraus müssen wir lernen und den Opfern deutlich machen, dass wir das verstanden haben. Und so weit es geht, das Leid der Opfer bedauern und anerkennen auch durch Taten.

Warum war die Partei so hilflos gegenüber den klar strukturierten Pädophilen in ihren Reihen?
Das war sie häufig, wenn Minderheiten an sie herangetreten sind und gesagt haben, dass sie Opfer der Repression seien.

Merkwürdig ist, dass Parteimitglieder kritisch auf den strafrechtlich verurteilten Fred Karst aufmerksam gemacht haben und die Partei nicht reagiert hat.
Der Name sagt mir nichts. Wir hatten immer wieder das Problem, dass zum Beispiel auch Rechte in der Partei waren. Aber die Partei hat auch nicht gleich mit Parteiausschlussverfahren reagiert, sondern versucht, das politisch zu lösen.

Die AL war eine Plattform für Minderheiten. Und strukturell hat man viel diskutiert, aber wenig beschlossen, wenn es um Abgrenzungen ging. Hat sich dieser Habitus in der Partei geändert?
Es gibt bei den Grünen stärker als in anderen Parteien die Abneigung, mit Verboten oder Ausschlüssen zu reagieren. Das war früher noch ausgeprägter als heute.

Die Berliner Parteichefs sagten: Wir schämen uns für das Versagen unserer Partei. Können Sie das unterschreiben?
Schämen ist nicht meine Reaktion. Ich reagiere mit dem Eingeständnis, das Schicksal der besonders Hilflosen nicht berücksichtigt zu haben und daraus zu lernen. Ich sage deutlich, unser Umgang mit dem Thema war falsch. Soweit wir das durch Taten und Worte machen können, müssen wir alles tun. Das können auch Anerkennungszahlungen sein.

War es falsch, was Jarasch und Wesener gesagt haben?
Nein, natürlich nicht. Jeder reagiert aber anders darauf. Ich bin in der politischen Generation groß geworden, die anders auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen und menschliches Fehlverhalten reagieren wollte, als es die Gesellschaft vorher tat. Also nicht nur mit dem Knüppel des Strafrechts. Wir haben dabei unbeachtet gelassen, dass wir allein schon mit der Diskussion um Straffreiheit Opfern Leid zufügen und sehr wehtun können. Das hätten wir berücksichtigen müssen.

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