Reaktionen vor dem Jobcenter: „Sanktionen sind eine Frechheit“
Erste Reaktionen vor dem Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg zeigen: Das Urteil der Verfassungsrichter geht vielen Menschen nicht weit genug.
Große Reaktionen auf das Urteil vom Verfassungsgericht bleiben am Dienstag vor dem Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg aus. Während das höchste deutsche Gericht in Karlsruhe drohende Leistungskürzungen bei Pflichtverletzungen für teilweise verfassungswidrig erklärt, gehen die Besucherinnen und Besucher weiterhin eilig durch die Glastüren. Einige stehen rauchend davor. Dass die Verfassungsrichter Kürzungen des Arbeitslosengelds II um mehr als 30 Prozent nicht für verhältnismäßig halten, wissen die meisten nicht.
Fragt man sie jedoch nach den Kürzungen, ist ihre Position klar: Die Sanktionen müssen weg. Das finden diejenigen, die selbst Hartz IV beziehen, Angehörige und auch Betreuer wünschen sich andere Strafen, die nicht die Existenz ihrer Klienten gefährden.
Abu Salah ist derzeit arbeitslos und bezieht Hartz IV. „Sanktionen sind eine Frechheit“, sagt der 28-Jährige entschieden. Sogar böswillig nennt er die Leistungskürzungen. Er wurde bereits sanktioniert, wegen Terminversäumnissen. „Von 420 Euro auf 230 Euro im Monat“, sagt er entrüstet. Er habe sich Geld von Freunden leihen müssen. Die Schulden seien noch nicht abbezahlt.
Wie es dazu kam? Er sei in Ausbildung gewesen, erklärt er. Dennoch habe er Termine beim Jobcenter wahrnehmen müssen. Für voll genommen habe er das Amt damals jedoch nicht. „Ich hatte ein Autoritätsproblem“, räumt er ein. Für den 28-Jährigen ist das nichts Ungewöhnliches bei jungen Menschen. Jobcenter-Mitarbeiter sollten damit umgehen können, fordert er. Doch viele seien dafür nicht ausgebildet und zudem überarbeitet. Die Lösung aus Salahs Sicht: bessere Ausbildungen für die Mitarbeiter, etwa das Studium eines sozialen Fachs, und mehr Personal.
Überarbeitetes, unsensibles Personal beklagen auch andere Besucher des Jobcenters. Die Geldstrafen nehmen in ihren Beschwerden weniger Raum ein als etwa die unüberschaubare Bürokratie, willkürliche Entscheidungen sowie Pflichttermine, die sich wie Schikanen anfühlten.
Nicht weit genug
Die Neuigkeit, dass Sanktionen von 60 und 100 Prozent für die meisten in Zukunft höchstwahrscheinlich wegfallen werden, scheint für die meisten Männer und Frauen vor dem Jobcenter keinen großen Unterschied zu machen. Peter Müller etwa findet, dass das Urteil nicht weit genug gehe. Die von den Verfassungsrichtern nicht beanstandete Sanktion von 30 Prozent kritisiert er scharf.
Müller selbst wurde bereits mit einer solchen Strafe belegt, fälschlicherweise, wie er sagt. Seine Sachbearbeiterin habe ihm unterstellt, dass er seinen 1,50-Euro-Job schwänze. Müllers Frau und Kinder seien gleich mitsanktioniert worden. Nachdem sein Arbeitgeber dem Jobcenter das Gegenteil bescheinigte, wurde Müller das Geld ausgezahlt. Doch der Monat mit 30 Prozent weniger Geld war für den Berliner hart. „Man muss anders kalkulieren“, sagt er trocken. Er habe dafür gesorgt, dass seine Kinder satt würden. Aber er selbst habe schlichtweg weniger gegessen.
Sanktionen abschaffen findet Müller richtig, besonders denjenigen Hartz-IV-Empfängern zuliebe, die Kinder haben. Einige äußern sich jedoch weniger entschieden als er. Sie finden Strafen richtig, besonders wenn Menschen nicht zu Terminen erscheinen. So sieht es auch Sevgi Ercel.
Sie kommt ebenfalls aus dem Jobcenter, sanktioniert wurde sie nach eigenen Angaben noch nie. Manche nutzten das Hartz-IV-System aus, erläutert sie, man könne es ihnen nur nicht nachweisen. Diesen Menschen das Geld zum Leben zu nehmen, findet Ercel jedoch „nicht so menschlich“. „Sie leben ja davon“, sagt die junge Frau. Doch eine bessere Lösung kann sie sich noch nicht vorstellen. Ercel wünscht sich jedoch eine angemessenere Strafe, die für Hartz-IV-Empfänger keine Existenzprobleme bedeutet.
Eva Przybyla