Panzerabwehrwaffen und Raketen für die Ukraine: „Sag mir, wie wir nicht in einem Supermachtkonflikt landen?“
Die USA und Europa liefern massiv Militärmaterial an die Ukraine. Das zeigt laut Pentagon Wirkung. Aber das macht den Strategen gleichzeitig auch Sorgen.
„Das Fenster für einfache Dinge, um den Ukrainern zu helfen, hat sich geschlossen.“ So zitiert die „New York Times“ Generalmajor Michael S. Repass, einen ehemaligen Kommandanten der US-Spezialeinheiten in Europa.
Einfache Dinge, das sind die 17.000 Panzerabwehrwaffen, mit denen das US-Militär die Ukraine binnen sechs Tagen ausgestattet hat, gewiss nicht. Sie wurden über die polnische und rumänische Grenze gebracht, damit sie über den Landweg nach Kiew und in andere ukrainische Städte gelangen.
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Die russischen Streitkräfte, so die Annahme der Amerikaner, wären ohnehin in anderen Teilen des Landes beschäftigt, sodass sie diese Versorgungsleitung noch nicht im Blick hätten. Auch zuvor schon hat das US-Militär innerhalb kürzester Zeit geliefert. Ende Februar waren bereits 70 Prozent der versprochenen Waffen im Land.
Laut Beamten des Pentagons machen sie einen Unterschied auf dem Schlachtfeld, das wurde ihnen aus der Ukraine bestätigt. Es sei ukrainische Soldaten, die mit schultergestützten Javelin-Panzerabwehrraketen bewaffnet seien, gelungen, in der vergangenen Woche mehrmals einen kilometerlangen Konvoi russischer Panzer- und Versorgungslastwagen anzugreifen.
Das habe geholfen, den russischen Bodenvormarsch aufzuhalten.
Vergleich zur Berliner Luftbrücke
Deutschland hat sich nach seiner historischen Wende ebenfalls mit Waffenlieferungen beteiligt. Zuletzt kamen 1000 Panzerabwehrwaffen sowie 500 Boden-Luft-Raketen vom Typ „Stinger“ in die Ukraine. Man sei auch über weitere Lieferungen im Gespräch, erklärte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht am Montag im „ZDF“.
Es muss aber „auch immer klar sein, dass wir unsere Bundeswehr dabei nicht schwächen dürfen“, sagte die SPD-Politikerin. Die Landes- und Bündnisverteidigung müsse gewährleistet werden. „Aber alles, was möglich ist, ist in der Prüfung, und darüber sind wir im Kabinett auch im Gespräch.“
Neben den USA, die bereits im zurückliegenden Jahr mehr als eine Milliarde Dollar an militärischer Hilfe für die Ukraine bereitgestellt haben, liefern auch viele andere Länder in Europa Panzerabwehrraketen, Flugabwehrraketen vom Typ Stinger, gepanzerte Fahrzeuge, Treibstoff, Munition, Sturmgewehre sowie Feldrationen.
Szenen, die die „New York Times“ wiederum veranlasst haben, einen Vergleich zur Berliner Luftbrücke zu ziehen. So schreibt die Zeitung vom berühmten „Berlin Airlift“, dem Wettlauf der Westalliierten, die den Westen Berlins 1948 und 1949 mit dem Nötigsten versorgten, während Russland versuchte, dies abzuwürgen. Wobei sich die Autoren der Unterschiede bewusst sind.
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Abgesehen davon, dass es ein komplexeres Unterfangen sei, sind die geografischen Gegebenheiten völlig andere. Während West-Berlin ein kleines Territorium mit direktem Luftzugang war, ist das ukrainische Staatsgebiet weitläufiger und wird von 44 Millionen Menschen bewohnt.
US-Präsident Joe Biden hat dort alle amerikanischen Streitkräfte abgezogen. Er wolle es vermeiden, ein „Mitkämpfer“ im Krieg zu werden. Dabei handelt es sich laut „New York Times“ um einen juristischen Begriff, der regelt, wie weit die Vereinigten Staaten gehen können, um der Ukraine zu helfen, ohne in direktem Konflikt mit einem nuklear bewaffneten Russland zu geraten. Keine einfache Sache.
Der russische Präsident Wladimir Putin hatte erst am Samstag gedroht: Sollte die Nato eine Flugverbotszone über der Ukraine einrichten, werde das als Teilnahme an einem militärischen Konflikt bewertet.
„Jede Bewegung in diese Richtung wird von uns als Teilnahme des jeweiligen Landes an einem bewaffneten Konflikt betrachtet“, sagte Putin bei einem Treffen mit Pilotinnen der staatlichen Fluggesellschaft Aeroflot. Es spiele dann auch keine Rolle, welcher Organisation diese Länder angehörten.
Die Nato lehnt eine solche Zone ab, wie Generalsekretär Jens Stoltenberg am Freitag in Brüssel nochmals bestätigte. Man werde nicht in den Krieg eingreifen, weder zu Land noch in der Luft, so Stoltenberg.
Es sei eine „schmerzhafte Entscheidung“, doch es gehe darum, einen großen Krieg in ganz Europa zu verhindern. „Wir haben als Nato-Verbündete die Verantwortung, eine Eskalation dieses Krieges über die Ukraine hinaus zu verhindern.“
Dass Russland selbst ein Nato-Mitglied direkt angreift und so einen Atomkrieg riskiert, bezweifeln Beobachter. Denkbar sind jedoch Provokationen aus Moskau.
Samuel Charap vom US-Thinktank Rand Corporation warnt etwa vor den „Risiken eines Unfalls, eines Zwischenfalls oder einer Fehleinschätzung, die zu einem Krieg zwischen der Nato und Russland führen könnten“. So könnte zum Beispiel eine verirrte Rakete oder ein Cyberangriff Auslöser für eine Ausweitung des Krieges sein.
Wie dieser oder besser gesagt die direkte Teilnahme daran abzuwenden sei, beschäftigt Strategen wie Staatschefs.
Im Weißen Haus, daran erinnert sich die „New York Times“, fragte sich vor zwei Jahrzehnten General David Petraeus mit Blick auf den Irak-Krieg: „Sag mir, wie das endet?“ Zuletzt lautete die Frage eines hochrangigen amerikanischen Beamten: „Sag mir, wie wir nicht in einen Supermachtkonflikt hineingezogen werden?“.