Machtkampf in Polen: Rütteln am Rechtsstaat
Die jüngste Volte der nationalkonservativen Regierungspartei PiS im polnischen Machtkampf ist ein Anschlag auf das Herz des europäischen Verfassungsstaats. Ein Kommentar.
Im demokratischen Rechtsstaat ist vieles verhandelbar. Die Interpretation seiner Prinzipien entwickelt sich weiter, vom Umgang mit Homosexualität über das Private im digitalen Zeitalter bis zur Kompetenzaufteilung zwischen Nationalstaat, Regionen, Kommunen und der EU. Die Prinzipien selbst dürfen jedoch nicht verhandelbar sein. Sie sind heilig. Wenn eine Partei es wagt, sie in den Machtkampf einzubeziehen, stellt sie die Gültigkeit dieser Prinzipien offen in Zweifel. Es ist der erste Schritt zur Auflösung des Rechtsstaats. Deshalb muss man die Frage in aller Schärfe stellen: Respektiert Polens rechtskonservative PiS-Regierung dessen Prinzipien oder möchte sie das Land aus Europa herausführen?
Ihre jüngste Volte im Machtkampf ist ein Anschlag auf das Herz des europäischen Verfassungsstaats, auf die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Judikative und Exekutive. Die Regierung weigert sich, das Urteil des Obersten Gerichts zu akzeptieren. Es hat ein neues Gesetz zum Arbeitsablauf des Gerichts für verfassungswidrig erklärt. Um zu verhindern, dass dieses Urteil formal wirksam wird, verweigert die Regierung die Veröffentlichung im Amtsblatt. Sie behauptet, dass die aus Wahlen stammende Legitimierung von Regierung und Parlament stärker wiege als die Legitimität des Verfassungstribunals. Das ist ungeheuerlich. Es ist Sinn der Gewaltenteilung, dass eine unabhängige Judikative die Verfassungsmäßigkeit des Regierungshandelns überprüft. Wo kämen wir hin, wenn eine Regierung sich selbst bescheinigen dürfte, dass alles, was sie tut, rechtens ist?
Da stellt sich die Frage, ob Polen noch zu Europa gehört. Ein Teil der Gesellschaft hat die Antwort längst gegeben. Im Winter haben die Bürger gegen fragwürdige Projekte der PiS demonstriert. Auch gegen die schändliche Missachtung des Gerichts mobilisiert die Gesellschaft fantasievoll. Das Komitee zur Verteidigung der Demokratie unterläuft den Winkelzug der Regierung mit dem Amtsblatt, indem es dazu aufruft, das Urteil halt auf Facebook zu publizieren. Und in den ersten 24 Stunden taten das schon mehr als 50 000 Polen.
Die wahre Frage ist: Will die PiS zu Europa gehören?
Die wahre Frage ist nicht, ob Polens Bürger zu Europa gehören wollen – die Mehrheit möchte das –, sondern: Will die PiS, die bei der Wahl im Herbst 2015 mit 37,6 Prozent der Stimmen die absolute Parlamentsmehrheit errang, zu Europa gehören? Und wie kann Europa den europäischen Polen helfen – jedenfalls da, wo die PiS eindeutig gegen nationales Recht und europäische Werte verstößt?
Die EU-Instanzen, aber auch viele deutsche Kommentatoren haben hier nicht immer das beste Gespür bewiesen. Vieles, was die PiS tut, verdient Kritik, ist aber kein ausreichender Anlass für eine Intervention von außen. Zum Beispiel, wenn sie die Chefposten in staatlichen Medien mit eigenen Leuten besetzt. Oder wenn sie die Funktionen des Justizministers und des Generalstaatsanwalts zusammenlegt, wie das früher der Fall war, es allerdings auch die USA und andere westliche Rechtsstaaten handhaben. Solche Entscheidungen muss man nicht billigen. Die Entscheidungsfreiheit der Regierung Polens sollte aber jeder respektieren.
Die offene Missachtung des Verfassungstribunals ist ein anderer Fall. Die Schwere des Rechtsbruchs verlangt ein Eingreifen der EU und berechtigt die Bundesregierung zur Stellungnahme. Es liegt im deutschen Interesse, dass Nachbar Polen ein Rechtsstaat bleibt.
Christoph von Marschall