Auf Finnland dürfte Schweden folgen: Russland hat die hirntote Nato wiederbelebt
Der Ukraine-Krieg untermauert den Wert des Verteidigungsbündnisses. Der Versuch von Russlands Präsident Putin ist nach hinten losgegangen. Ein Gastbeitrag.
Markus Kaim ist Senior Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Die finnische Regierung hat nun also angekündigt, dass das Land die Mitgliedschaft in der Nato anstrebe. Noch unklar ist, ob Schweden diesem Schritt folgt – es gilt aber als sehr wahrscheinlich. Dabei war die Frage einer möglichen Nato-Mitgliedschaft in diesen Ländern kein Gegenstand einer ernsthaften Debatte, bevor Russlands Präsident Wladimir Putin den Krieg gegen die Ukraine begann.
Beide nordischen Staaten haben eine lange Tradition der militärischen Blockfreiheit. Und obwohl sie bereits seit Jahren eng mit der Allianz zusammenarbeiten, hatte die Frage eines Nato-Beitritts keine politische Priorität. Der russische Angriff auf die Ukraine hat, wie so vieles, auch dies geändert.
Als Reaktion auf die russische Aggression haben beide Staaten ihre Sicherheitspolitik revidiert: Sie möchten sich nicht länger ausschließlich auf die eigenen militärischen Fähigkeiten verlassen, sondern suchen nunmehr Schutz durch ein System kollektiver Verteidigung: Der bevorstehende Antrag auf eine Nato-Mitgliedschaft markiert diesen Paradigmenwechsel.
Mehrheiten in Finnland und Schweden für Beitritt
Jüngste Umfragen zeigen zudem, dass in beiden Ländern deutliche und wachsende Mehrheiten für einen Beitritt zum Bündnis sind. Wenn Finnland und Schweden beiträten, würden sie beträchtliche militärische Fähigkeiten in das Bündnis mitbringen, darunter moderne Luft- und U-Boot-Kapazitäten, die die Sicherheitsarchitektur Nordeuropas verändern und dazu beitragen, weitere russische Aggressionen abzuschrecken.
Mit dem Einmarsch in die Ukraine hat Putin nicht nur darauf abgezielt, das Land wieder unter seine Kontrolle zu bringen, sondern auch die euro-atlantische Sicherheitsordnung dauerhaft zu verändern. Wie immer deutlicher wird, ist ihm dies gelungen – nur nicht in dem Sinn, den er wahrscheinlich beabsichtigte. Der Angriff Russlands hat die Nato geeint, wiederbelebt und eine weitere Erweiterungsrunde sehr viel wahrscheinlicher gemacht.
Mit dem sich abzeichnenden Beitritt Finnlands (und Schwedens) wird sich darüber hinaus die Sicherheitsarchitektur in Nordeuropa verändern. Die integrierte Kontrolle des gesamten Gebiets wird die Verteidigung Estlands, Lettlands und Litauens erleichtern, da insbesondere das schwedische Hoheitsgebiet für diese Bemühungen von Bedeutung ist. Dies wird die Abschreckung stärken und einen militärischen Konflikt unwahrscheinlicher machen.
Die vielleicht wichtigste Folge eines Beitritts Finnlands und Schwedens ist jedoch die Stärkung der politischen Dimension der Nato als Pfeiler der Verteidigung Europas und des euro-atlantischen Raums.
Beide Länder werden dazu beitragen, die Koordinierung zwischen der EU und der Nato zu vertiefen, und damit zu einer besseren Lastenteilung über den Atlantik hinweg beitragen – ein Ziel, das angesichts der größeren Anforderungen, die die Sicherheitslage im indo-pazifischen Raum an die Vereinigten Staaten stellt, immer wichtiger wird.
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Diese politische Wiederbelebung der vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron im Herbst 2019 noch als „hirntot“ beschriebenen Nato, findet nicht nur im neuen sicherheitspolitischen Kurs der beiden nordischen Länder ihren Ausdruck, sondern reicht weit darüber hinaus.
Die Allianz hat trotz unterschiedlicher Interessen ihrer Mitglieder einig und entschlossen auf die russische Invasion der Ukraine reagiert: So beteiligt sich gerade der frühere Kritiker Macron mit der Verlegung von 1000 französischen Soldaten nach Rumänien an der Rückversicherungspolitik der Nato für ihre östlichen Verbündeten.
Vergleichbare Unterstützung leisten auch viele weitere Allianzpartner. Mit koordinierten Waffenlieferungen haben die Nato-Mitglieder die Ukraine effektiv unterstützt und zugleich eine Verwicklung der Allianz in den Konflikt vermieden.
Die USA unter Präsident Joe Biden haben ihre Rolle als politische wie militärische Führungsmacht der Nato kraftvoll wahrgenommen und seit Februar 11.000 weitere Soldaten nach Europa verlegt sowie die Anpassung der Allianz an die veränderte sicherheitspolitische Lage eingeleitet.
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Dies ist umso bemerkenswerter, als die außenpolitischen Prioritäten von Biden eigentlich im indo-pazifischen Raum liegen und er zugleich unter innenpolitischem Druck steht, die globale ordnungspolitische Rolle der USA zu beschränken.
Schließlich hat auch die Bundesregierung die Bedeutung der Nato für die euro-atlantische Sicherheit nicht nur rhetorisch unterstrichen, sondern mit einer Reihe von Maßnahmen klar unterlegt: So hat Deutschland sich nicht nur zur dauerhaften Erhöhung des Verteidigungshaushaltes verpflichtet, sondern auch zur Fortführung der nuklearen Teilhabe und zur Unterstützung der osteuropäischen Nato-Mitglieder.
Im Juni wird der Nato-Gipfel in Madrid das veränderte sicherheitspolitische Umfeld reflektieren und die notwendigen Anpassungsschritte in einem neuen strategischen Konzept vollziehen. Vor allem drei Fragen müssen die Allianzmitglieder in diesem Zusammenhang beantworten.
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Erstens sollte geklärt werden, wie eine Stärkung des europäischen Pfeilers der Nato politisch wie militärisch so ausgestaltet werden kann, dass Europa dauerhaft mehr Verantwortung für die euro-atlantische Sicherheit tragen kann.
Wie kann dabei eine autonomere Rolle in enger Absprache, nicht in Abgrenzung zu den USA entwickelt werden? Denn so erfreulich das amerikanische Engagement in Europa ist, so klar ist auch, dass die sicherheitspolitischen Prioritäten der USA auf Dauer in anderen Regionen liegen werden. Zudem würde eine mögliche Wiederwahl von Donald Trump im November 2024 erneut Zweifel aufkommen lassen, ob die USA ihrer Beistandsverpflichtung in der Nato überhaupt nachkämen.
Zweitens müssen die Prioritäten der Nato und ihre militärische Aufstellung festgelegt werden: Wird die militärische Einhegung Russlands in den nächsten zehn Jahren der Hauptzweck der Nato sein? Oder doch die Auseinandersetzung mit China? Oder vielleicht die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus in der südlichen Peripherie? Und sind noch Auslandseinsätze zum Krisenmanagement nach Afghanistan gewünscht oder vorstellbar?
Drittens sollte die Nato ihre Partnerschaften weiterentwickeln. Auch die politischen, finanziellen und militärischen Ressourcen einer Allianz mit möglicherweise bald 32 Mitgliedern bleiben begrenzt. Je nach sicherheitspolitischem Kontext werden Länder wie Japan, Südkorea, Australien oder Jordanien große Bedeutung für die Aktivitäten der Allianz erhalten. Sie sollten enger an die Nato gebunden werden als bisher.