Krieg in der Ukraine: Russen kontrollieren Großteil von Luhansk, neue Massengräber entdeckt – das geschah in der Nacht
Russlands Truppen setzen ihr Bombardement von Städten in der Ukraine weiter fort. Selenskyj sieht mehr Verständnis bei Partnern. Ein Überblick über die Lage.
Russische Truppen stoßen in der Ukraine weiter vor, die befürchtete Großoffensive könnte jedoch erst noch bevorstehen. In der Nacht zum Donnerstag gab es aus mehreren ukrainischen Städten Meldungen über russischen Beschuss.
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Entlang der gesamten Front in den Gebieten Donezk, Luhansk und Charkiw griffen die Russen zwar seit Dienstag an, sagte der Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrats, Olexij Danilow, in einem Radio-Interview. Es handele sich aber wahrscheinlich erst um „Probeangriffe“. Der Großteil von Luhansk ist allerdings nach ukrainischen Angaben bereits unter russischer Kontrolle.
Die Entwicklungen im Überblick:
- Nach dem Abzug der ukrainischen Truppen aus der Kleinstadt Krimenna kontrollierten russische Einheiten nun 80 Prozent des Gebietes Luhansk, teilte der Gouverneur der Region, Serhij Hajdaj, am Mittwochabend auf Telegram mit. Auch die Städte Rubischne und Popasna in Luhansk seien mittlerweile „teilweise“ unter russischer Kontrolle. Um diese gibt es seit Wochen intensive Kämpfe. Der Beschuss habe auch hier zugenommen. Zu Beginn des russischen Angriffskrieges vor rund acht Wochen hatten die Separatisten der „Volksrepublik“ Luhansk noch rund 30 Prozent der Region unter ihrer Kontrolle gehabt.
- Russischen Angaben zufolge befinden sich noch rund 2500 ukrainische Kämpfer und ausländische Söldner im Stahlwerk Asowstal in Mariupol. Ukrainischen Mitteilungen zufolge sollen dort zudem rund 1000 Zivilisten Schutz gesucht haben. „Heute vor oder nach dem Mittagessen wird Asowstal vollständig unter Kontrolle der russischen Streitkräfte sein“, erklärte der tschetschnische Anführer Ramsan Kadyrow, dessen Einheiten in der Ukraine kämpfen, in der Nacht zum Donnerstag. Die in dem Stahlwerk verbliebenen ukrainischen Kämpfer hätten am Morgen noch die Möglichkeit, sich zu ergeben. Täten sie dies, sei er sicher, dass die russische Führung „die richtige Entscheidung“ treffen werde.
- Am Mittwochabend haben zwei Vertreter der ukrainischen Delegation bei den Gesprächen mit Russland ihre Bereitschaft erklärt, für Verhandlungen über die Evakuierung der Kämpfer und Zivilisten aus dem Stahlwerk nach Mariupol zu kommen. Zuvor hatte der Kommandeur der verbliebenen Marineinfanteristen um eine Evakuierung seiner Kämpfer in einen Drittstaat gebeten. Eine Rettung von Zivilisten war am Mittwoch ukrainischen Angaben zufolge abermals gescheitert.
- Ob mit den Kämpfen im Osten des Landes schon die erwartete Großoffensive der Russen begonnen hat, war unklar. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte zwar bereits am Montagabend erklärt, dass „die Schlacht um den Donbass“ begonnen habe. Nach Einschätzung des Sekretärs seines Sicherheitsrates ist das jedoch noch nicht der Fall. Es sei aber nur eine Frage der Zeit. Am Dienstag hatte auch das US-Verteidigungsministerium erklärt, es sehe die jüngsten russischen Angriffe nur als Vorzeichen einer größeren Offensive Moskaus. Der Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrates warnte davor, zu denken, die Kämpfe um den Donbass würden die letzte Schlacht sein. „Ich wäre nicht so optimistisch, es können jede Menge verschiedene Dinge noch vor uns liegen“, erklärte Danilow.
- Unterdessen sind im Kiewer Vorort Borodjanka nach ukrainischen Angaben zwei weitere Massengräber entdeckt worden. Darin hätten sich insgesamt neun Leichen von Zivilisten, Männer wie Frauen, befunden, teilte Andrij Nebitow von der Polizei der Hauptstadtregion in der Nacht zum Donnerstag auf Facebook mit. Einige von ihnen hätten Folterspuren aufgewiesen. Borodjanka gehört zu den am stärksten zerstörten Städten in der Hauptstadtregion. Aus der Stadt wurden Gräueltaten der mittlerweile abgezogenen russischen Einheiten gemeldet. Die Angaben konnten nicht unabhängig geprüft werden.
- Nach Tagen eindringlichen Bittens um mehr und schwere Waffen sieht der ukrainische Präsident Selenskyj mehr Verständnis bei Partnerländern der Ukraine aufkommen. Er könne mit „vorsichtigem Optimismus“ sagen, dass die Partner Kiews „sich unserer Bedürfnisse bewusster geworden sind“, sagte Selenskyj in seiner allabendlichen Videobotschaft in der Nacht zum Donnerstag.
- Auch Deutschland, vor allem Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), war tagelang Zögerlichkeit bei der Lieferung schwerer Waffen vorgeworfen worden. Am Dienstagabend hatte Scholz dann die weitere Strategie vorgestellt: Demnach finanziert die Bundesregierung direkte Rüstungslieferungen der Industrie an die Ukraine.
- Seit Kriegsbeginn hat das Land von Deutschland gut 2500 Luftabwehrraketen, 900 Panzerfäuste mit 3000 Schuss Munition, 100 Maschinengewehre und 15 Bunkerfäuste mit 50 Raketen erhalten. Zudem 100.000 Handgranaten, 2000 Minen, rund 5300 Sprengladungen sowie mehr als 16 Millionen Schuss Munition verschiedener Kaliber für Handfeuerwaffen, erfuhr die Deutsche Presse-Agentur aus ukrainischen Regierungskreisen. Nicht auf der Liste stehen schwere Waffen wie Panzer oder Artillerie.
Am Donnerstag will sich US-Präsident Joe Biden sich zu Russland und der Ukraine äußern.
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Derweil berät die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock in Estland mit der politischen Führung des Balten-Staates über Konsequenzen aus dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. In Tallinn sind unter anderem Gespräche von Baerbock mit ihrer Kollegin Eva-Maria Liimets sowie ein Treffen mit Ministerpräsidentin Kaja Kallas geplant. In Washington findet am selben Tag ein internationales Treffen zur Unterstützung der Ukraine mit Teilnahme von Weltbank-Chef David Malpass und IWF-Chefin Georgiewa statt. (dpa, AFP)