Von der Türkei nach Syrien: Rückkehr in ein zerstörtes Land
Immer mehr Syrer verlassen die Türkei Richtung Heimat. Doch lässt sich so die Flüchtlingskrise bewältigen?
Die Koffer und Kinderwagen sind verstaut, die Reisebusse abfahrbereit. Aufgeregt hüpfen Kinder herum. Die meisten von ihnen sind zu jung, um sich an das Land erinnern zu können, in das sie nun zurückkehren. Ihre Mütter und Väter umarmen Nachbarn und Verwandte. So wird auf dem zentralen Platz von Esenyurt, einem Vorort im Westen von Istanbul, Abschied genommen. Ein Bus-Konvoy beginnt hier die 1200 Kilometer lange Reise nach Syrien. Rund 100 syrische Flüchtlinge, die zum Teil seit Jahren in der Türkei leben, kehren in ihre kriegszerstörte Heimat zurück.
"Fünf Jahre lang haben wir hier gelebt, und wir sind herzlich aufgenommen und gut versorgt worden", sagt ein syrischer Familienvater. "Doch jetzt hat sich die Lage in unserer Heimat einigermaßen stabilisiert. Deshalb wollen wir zurückkehren". Einige Rückkehrer treten die Heimreise an, weil sie in der Türkei kein Auskommen finden – die Löhne für die Flüchtlinge sind oft niedrig, die Mieten aber hoch, vor allem in einer Großstadt wie Istanbul. Bei anderen spielt das Heimweh eine große Rolle. "Syrien ist nun einmal unsere Heimat", sagt eine Frau.
Im März, kurz nach Eroberung der syrischen Stadt Afrin durch die türkische Armee, begannen Mitarbeiter von Esenyurts Bürgermeister Ali Murat Alatepe, sich bei den Syrern im Stadtbezirk nach Rückkehrwünschen zu erkundigen. Gezwungen wird niemand. Und zunächst war die Skepsis groß. "Der erste Konvoi war noch schwierig: 20 Menschen waren das, die haben wir richtig beknien müssen, es zu versuchen", sagt Alatepe.
Überreden muss er niemanden mehr
Inzwischen hat Alatepe, ein Parteifreund von Präsident Recep Tayyip Erdogan, 16 Konvois auf die Reise geschickt. Die Rückkehrer würden auf syrischem Boden vom türkischen Militär bis zu ihrer Unterkunft eskortiert und vom türkischen Katastrophenschutzamt und der Hilfsorganisation Roter Halbmond betreut, sagt der Bürgermeister.
Überreden muss er heute niemanden mehr. Die Heimkehrer meldeten aus Syrien an Freunde und Verwandte in Esenyurt, dass es ihnen gut gehe und kurbelten damit die Nachfrage nach Plätzen auf den Bussen an, berichtet Alatepe. Einige Rückkehrer hätten in Afrin bereits eigene Geschäfte gründen können. Bis Jahresende will der Bürgermeister rund 6000 Syrer nach Hause geschickt haben, im nächsten Jahr sollen es 30.000 werden.
Eine eigene Abteilung der Stadtverwaltung mit Übersetzern und Sachbearbeitern kümmert sich in Esenyurt um die Rückkehrwilligen. An einem sonnigen Novembermorgen sitzen gut ein Dutzend Syrer, darunter Frauen und Kinder, in der Amtsstube, um Pässe und Aufenthaltsgenehmigungen vorzulegen, Formulare auszufüllen und das kostenlose Rückkehr-Ticket zu buchen. Die Busse fahren fast jede Woche. Rund 3,5 Millionen syrische Flüchtlinge beherbergt die Türkei, viel mehr als jedes andere Land. Der Druck auf die Kommunen ist hoch. In manchen Orten im Süden des Landes leben mehr Syrer als Türken. Aber selbst in der Millionenmetropole Istanbul sind Schulen, Parks und Kliniken oft überlastet. Die Beschwerden der türkischen Wähler werden lauter, die Opposition wirft Erdogan vor, die Türkei in eine "Suppenküche" für Syrer verwandelt zu haben.
Einige wollen nicht in türkischen Gebieten bleiben
Der wachsende Druck aus der Wählerschaft ist ein wichtiger Grund dafür, dass die Überlandbusse in Esenyurt, einem Stadtbezirk mit 850.000 türkischen Einwohnern und mindestens 100.000 Syrern, zur Abfahrt bereitstehen. Der andere Grund. Seit Kurzem gibt es türkisch kontrollierte Gebiete im Norden Syriens, die rückkehrwillige Flüchtlinge aufnehmen können. Mit zwei Militärinterventionen seit 2016 hat die türkische Armee diese "Sicherheitszonen" geschaffen. Türkischen Regierungsangaben zufolge sind bisher 260.000 Flüchtlinge aus der Türkei in den syrischen Bezirk Jarablus zurückgekehrt, der seit dem türkischen Einmarsch vor zwei Jahren von Ankara kontrolliert wird. Schon Zehntausende kehrten nach Afrin zurück.
In einigen türkischen Grenzprovinzen gibt es ähnliche Heimkehrprogramme wie in Esenyurt. Allein in der Grenzprovinz Hatay, rund 30 Kilometer westlich von Afrin, melden sich jeden Tag rund 150 Rückkehrwillige, meldet die Nachrichtenagentur Anadolu. Einige Syrer aus Esenyurt wollen nicht in den türkischen Gebieten bleiben, sondern weiterreisen in die Hauptstadt Damaskus oder in andere Gegenden, die von der syrischen Regierung beherrscht werden.
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Vier Monate vor den Kommunalwahlen im März schauen Alatepes Leute genau hin, was die Wähler in Esenyurt zum Rückkehrprogramm sagen. "Seit wir die Busse auf die Reise schicken, gibt es weniger Beschwerden", sagt ein Helfer des Bürgermeisters. Er erhalte mittlerweile Anfragen von Syrern aus anderen Istanbuler Stadtteilen.
Studie: Türkei braucht gezielte Integrationspolitik
Experten bezweifeln allerdings, dass Aktionen wie die in Esenyurt das Flüchtlingsproblem in der Türkei wirklich lösen können. Die allermeisten Syrer wollten dauerhaft in der Türkei bleiben, sagt Migrationsforscher Murat Erdogan von der Deutsch-Türkischen Universität in Istanbul.
Auch eine Studie für Erdogans Präsidialamt, deren Ergebnisse jetzt von der Oppositionszeitung "Cumhuriyet" veröffentlicht wurden, kommt zu dem Ergebnis, dass die syrischen Gäste bleiben werden und die Türkei daher eine gezielte Integrationspolitik braucht. In zehn Jahren werde das 80-Millionen-Land eine syrische Minderheit von bis zu fünf Millionen Menschen haben, sagt die Untersuchung voraus. Dennoch treibt die Regierung die lokalen Initiativen für eine freiwillige Rückkehr weiter voran.
Wie die regierungsnahe Zeitung „Sabah" berichtet, soll eine enge Zusammenarbeit zwischen Innenministerium und Katastrophenschutzamt dabei helfen, dass die Heimkehr geordnet abläuft. Unter anderem sollen türkische Beamte auf syrischem Boden prüfen, ob die bei der Flucht verlassenen Häuser der Syrer noch bewohnbar sind.
In Esenyurt rollen denn auch die Busse des jüngsten Konvois vom Platz. Die Rückkehrer winken hinter den Scheiben, Bürgermeister Alatepe winkt ihnen nach. Und alle hoffen, dass das gut geht – die Rückkehr in ein keineswegs befriedetes Syrien, sondern in besetzte Gebiete eines noch immer kriegsgeschüttelten und -geplagten Landes.