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Prekäre Übergänge: Nicht nur die Zeit bis zum erstem Job empfinden viele als unsicher.
© dpa/Klaus-Dietmar Gabbert

Am Rand der Wohlstandsgesellschaft: Prekarisierung und Rechtspopulismus: Eine gefährliche Mischung

Je prekärer, desto rechter? Trotz boomender Wirtschaft fühlen sich Millionen Menschen in Deutschland abgehängt, Biographien werden brüchiger. Das hat erschreckende Folgen, sagen Forscher.

Einerseits Zufall, andererseits auch wieder nicht: Ausgerechnet an dem Tag, als an der Humboldt-Universität (HU) eine Tagung zur Prekaritätsforschung stattfand, meldete der Paritätische Gesamtverband, dass die Armutsquote in Deutschland auf Rekordniveau gestiegen ist. 15,7 Prozent der Bevölkerung müssen mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte auskommen. In Berlin sind es sogar 22,4 Prozent. Auch wenn diese Definition von Armut schon lange umstritten ist: Die soziale Schere geht weiter auseinander – trotz boomender Wirtschaft und niedriger Arbeitslosenzahlen.

Am unteren Ende der Wohlstandsgesellschaft sind die Arbeits- und Lebensbedingungen seit den Reformen der Agenda 2010 ungemütlicher geworden. Doch wie lässt sich die wachsende Prekarisierung wissenschaftlich untersuchen? Was meint überhaupt „prekär“ und wer gehört zum Prekariat? Diesen Fragen wollte die Tagung „Prekarisierung unbound?“ nachgehen, die jetzt vom Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien in Kooperation mit dem Institut für Sozialwissenschaften der HU veranstaltet wurde.

Armut und Prekariat sind eng verwandt, aber nicht deckungsgleich – das weiß die Wissenschaft immerhin schon seit einigen Jahren. „Prekarität ist multidimensional“, erklärte Stefan Stuth vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Prekäre Lebensverhältnisse entstehen, wenn verschiedene Faktoren zusammentreffen. Ein geringes Einkommen ist nur ein Aspekt. Erschwerend kommen befristete Arbeitsverhältnisse, Teilzeitjobs, fehlende rechtliche Absicherungen, kaum Aussicht auf Rente, Schulden, beengte Wohnverhältnisse und manchmal die Pflege von Angehörigen hinzu.

Was, wenn der Übergang ins Erwerbsleben misslingt?

Stuth untersuchte mit Kollegen die Lebensläufe junger Frauen in der Übergangsphase von der Schule in die Erwerbstätigkeit. Viele Menschen leben in dieser Phase unter prekären Bedingungen. Oft aber ist das nur eine vorübergehende Unsicherheit, bis die Ausbildung beendet und ein fester Job gefunden ist.

Doch was, wenn der Übergang misslingt und die Arbeitsverhältnisse dauerhaft problematisch bleiben? Das alte bundesrepublikanische Modell – jahrzehntelang beim gleichen Arbeitgeber – ist in Zeiten von Globalisierung und Rationalisierung seltener geworden. Moderne Arbeitsbiografien zeichnen sich durch Flexibilität und häufige Wechsel aus. Natalie Grimm vom Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen hat anhand Dutzender biografisch-narrativer Interviews untersucht, welchen anstrengenden Statusschwankungen Menschen ausgesetzt sind, die keine dauerhafte Vollzeitbeschäftigung erreichen. „Wir erleben derzeit die Entwicklung und Verfestigung einer neuen Zwischenzone der Arbeitswelt“, erklärte sie. Arbeitnehmer, die immer wieder mit kurzfristigen Verträgen, mit Neuanfängen, Entlassungen und Arbeitslosigkeit konfrontiert sind, bezeichnet die Soziologin als „Grenzgänger“. Dieser Gruppe weht der kalte Wind des beschleunigten Kapitalismus ins Gesicht. Ihr Leben sei geprägt von „Statusturbulenzen“, sagte Grimm.

Als "normal" wird die lebenslange sichere Beschäftigung empfunden

Mit unterschiedlichen Strategien versuchen die Betroffenen, ihre Lage zu verändern. Grimm fand verschiedene Typen: von den (eher jüngeren) Engagierten, die aktiv nach neuen Möglichkeiten suchen, bis zu den eher Älteren, die schon fast resigniert haben. Das Problem sei auch, dass selbst Menschen, die jahrzehntelang Niederlagen und Rückschläge erleben, trotzdem eine starke Normvorstellung im Kopf haben. „Normal“ finden sie ihre Situation nicht; „normal“ wäre aus ihrer Sicht die lebenslange sichere Beschäftigung.

Die Betroffenen erleben ihre Statusturbulenzen als persönliches Scheitern – mit allen psychologischen Folgen. Der Bezug von Arbeitslosengeld (ALG) II ist schambehaftet und wird als soziale Degradierung erlebt. Das hat auch Auswirkungen auf die politische Einstellung: Weil ihnen selbst permanent der soziale Abstieg droht, grenzen sich die „Statusakrobaten“ umso vehementer von anderen Gesellschaftsschichten ab, etwa den Langzeitarbeitslosen. „Bei einem Teil der Befragten wurde eine Entsolidarisierung sichtbar“, warnte Grimm.

Petra Schütt vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung in München ging einer anderen Frage nach. Ebenfalls ausgehend von narrativen Interviews fiel ihr auf, dass viele Arbeitssuchende mit geringer Qualifikation zwar verbal jedem Job aufgeschlossen gegenüberstehen (nach dem Motto: „Ich würde alles machen!“), in der Realität aber Jobs im Baugewerbe oder bei der Erntehilfe doch ablehnen.

ALG II als einziger Stabilitätsfaktor im Leben

Woran liegt das? Bei ihrer Untersuchung stieß die Soziologin auf ein beunruhigendes Phänomen: Nach zahlreichen negativen Erfahrungen im Berufsalltag – oft wurden zum Beispiel Löhne unpünktlich oder gar nicht bezahlt – erleben die Betroffenen die Grundsicherung durch ALG II als einzigen Stabilitätsfaktor in ihrem Leben. Bei jeder möglichen Neubeschäftigung wägen sie daher ab: Soll ich lieber weiter Arbeitslosengeld beziehen, mit allen finanziellen Nachteilen und sozialen Stigmatisierungen – oder den Schritt in eine unsichere Arbeitswelt wagen.

„Das Problem ist, dass bei Lohnausfall die Grundsicherung nicht schnell genug greift“, sagte Schütt. „Das staatliche Hilfesystem läuft zu langsam an.“ Innerhalb kurzer Zeit wird die Situation dann existenzbedrohend. Mietverträge werden gekündigt, Familien brechen auseinander. Wo die finanziellen Ressourcen ohnehin chronisch knapp sind, kann jede Erschütterung die mühsam erlangte Sicherheit im Alltag zerstören. Die prekär Beschäftigten beziehungsweise Arbeitssuchenden hätten sich daher eine Art innerer Handlungsstrategie zurechtgelegt. „Security first“ – Sicherheitsdenken geht vor. „Auch weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass sich im Ernstfall niemand um sie kümmert.“

Die permanente Sorge um sich selbst kann im schlimmsten Fall in Hass auf andere umschlagen. „Prekarisierung – Triebkraft eines neuen Rechtspopulismus?“, fragte Klaus Dörre, Arbeits- und Wirtschaftssoziologe an der Universität Jena, provozierend im Titel seines Vortrags. Der Prekaritätsforscher war angetreten, eine alte Hypothese wissenschaftlich zu überprüfen. Der bekannte französische Soziologe Robert Castel hatte vor über zehn Jahren schon die These formuliert, dass wachsende wirtschaftliche Unsicherheit ein kollektives Ressentiment gegen andere nährt, dass also Prekarisierungsprozesse dem Rechtspopulismus direkt in die Hände spielen. Kurz gesagt: Je prekärer, desto rechter.

Angst vorm Jobverlust haben große Teile der Bevölkerung

Dörre bezweifelte das – und fand in seinen empirischen Studien keine einfachen monokausalen Erklärungen. Es gäbe zudem „viele Formen von Prekarität“, nicht nur in der Zone derer, die schlecht bezahlte, befristete Jobs machen müssen. Auch Menschen in scheinbar sicheren, unbefristeten Arbeitsverhältnissen erleben eine subjektive Unsicherheit. Die Angst vor Jobverlust geht überall um. Große Gruppen der Bevölkerung hätten den wirtschaftlichen Aufschwung der letzten Jahre nicht am eigenen Leib gespürt, erklärte Dörre.

Die Erfolgsbilanzen, die Wirtschaftsvertreter und Politiker so gerne öffentlich darlegen, sowie die auf allen medialen Kanälen präsenten Wohlstandsinszenierungen tragen zur privaten Frustration bei. Viele Menschen leben streng genommen nicht unter prekären Umständen, fühlen sich aber trotzdem ausgeschlossen und abgehängt. Rechtspopulistisches Gedankengut, das Dörre bei allen Bildungsschichten fand, wird dann mit den eigenen Erfahrungen im Arbeitsleben kombiniert. Daraus erst entsteht eine gefährliche Mischung. Fazit des Soziologen: „Es gibt Zusammenhänge zwischen Prekarisierung und Rechtspopulismus.“ Aber die Sache ist komplexer als bisher vermutet.

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