Proteste in Russland: Putins Widersacher
Alexej Nawalny fordert den russischen Präsidenten heraus. Er gilt als der Kopf der russischen Opposition. Doch selbst Kreml-Kritikern ist der 41-Jährige auch suspekt.
Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ist nach den Moskauer Demonstrationen vom Montag zu 30 Tagen Haft verurteilt worden. Nach einer Aktion gegen die Korruption und die schamlose Bereicherung der russischen Eliten im März hatte er nur 15 Tage erhalten. Diesmal bekam er die Strafe für einen Protest, an dem er nicht einmal teilnehmen konnte. Zur Abschreckung seiner Anhänger hatten ihn die Behörden schon vor dem Beginn der Veranstaltung aus dem Verkehr gezogen.
In kremlnahen Medien der russischen Hauptstadt liest es sich am Dienstag so: Zweieinhalb Millionen Moskauer feierten auf den Straßen fröhlich den „Tag Russlands“, den Verfassungstag. Einige tausend, von Nawalny zu Protesten an unerlaubtem Ort im Zentrum Moskaus aufgerufen, störten dabei. Das ist eine schamlose Untertreibung, denn Demonstrationen hatte es am Montag in mehr als 200 russischen Städten gegeben.
Der populärste Oppositionelle seit Jelzin
Nawalny ist zweifellos der populärste Oppositionspolitiker seit der Zeit, als Boris Jelzin noch Opposition war. Die Aktionen, die er in diesem Jahr organisiert, sind die stärksten seit den Protesten nach den Wahlen im Winter 2011/12. Bei denen hatte der 41-Jährige bereits eine zentrale Rolle gespielt, sie waren seinerzeit jedoch im Wesentlichen auf den städtischen Mittelstand in Moskau und St. Petersburg beschränkt geblieben. Nawalny ist vor allem in westlichen Medien die Figur, in der sich die Gegnerschaft zum russischen Präsidenten verkörpert. Aber er ist selbst vielen Putin-Kritikern im eigenen Land auch suspekt. Sie können nicht mit Überzeugung sagen, ob der Rechtsanwalt nur ein charismatischer Populist ist oder ob er tatsächlich politische Überzeugungen vertritt. Und wenn ja, ob es am Ende demokratische sind.
Das hat seinen Grund: Nawalny begann seine politische Karriere vor gut einem Jahrzehnt mit einer nationalistischen Drehung. Er agitierte in seinen Internet-Auftritten gegen die nationalen Minderheiten Russlands aus dem Kaukasus und gegen die Migranten aus südlichen Nachbarstaaten. Zeitweise ließ er sich sogar auf den „Russischen Marsch“ ein, eine Organisation aus dem extrem rechten Spektrum. Doch rasch übernahm Putin das Thema Nationalismus selbst in die Hand – mit dem Höhepunkt der Krim-Annexion 2014.
Unzufriedener Mittelstand
Nawalny reagierte flexibel. Er ist der erste Internet-Politiker Russlands, und er testete im Netz, welches Thema die meisten Visits bringt. Als zugkräftig erwies sich die Kritik an der endemischen Korruption. Diese Fokussierung hat einen großen Vorzug: Diese Kampagne kann Putin Nawalny nicht glaubwürdig wegnehmen. Korruption ist eine der wesentlichen Säulen der Putin’schen Machtvertikale. Sie ist nach langer Gleichgültigkeit der Bevölkerung inzwischen aber zunehmend Grund für Unmut, weil Russland seit 2014 durch eine Krise ging, die auch den Mittelstand nicht ungeschoren ließ. Was die Mächtigen nicht zu beeindrucken scheint.
Vor allem außerhalb Russlands wird derzeit kaum wahrgenommen, dass der Unmut sich nicht auf die Korruption beschränkt. Es ist vielmehr für den Kreml kaum noch berechenbar, wovon der nächste Protest ausgelöst wird: Lastwagenfahrer blockieren wirksam die Straßen, weil sie Mautgebühren nicht akzeptieren. Kreditnehmer in Tatarstan wollen nicht länger Bankzinsen bezahlen. Moskauer Wohnungseigentümer schließen sich zusammen, um gegen die Stadtsanierungspläne ihres Bürgermeisters zu protestieren. Mehr als 1100 solcher Proteste hat ein russisches Politikinstitut in den vergangenen zwei Jahren gezählt.
Nawalny will Präsident werden
Nawalny versucht, alles mit der Korruption zu verbinden und für seine Kampagne zu nutzen. Er will im nächsten Jahr bei den Präsidentschaftswahlen antreten. Im Augenblick steht noch nicht fest, ob er das überhaupt darf, denn er ist in einem fadenscheinigen Verfahren wegen Veruntreuung verurteilt worden. Nawalny lässt sich nicht stören oder einschüchtern. Er hat in mehr als 50 der bedeutendsten Städte Wahlkampfstäbe gründen können.
Auffällig an diesen Stäben ist der große Anteil einer Generation, die gerade erst die politische Bühne betritt, weil sie noch einmal 20 Jahre jünger ist als Nawalny selbst. Diese Teenager und Studenten kennen nur das System Putin und sie haben – noch – keine Angst vor ihm. Für sie ist dieses autokratische Regime, was vor 30 Jahren in den Zeiten der Perestroika die KPdSU für die jungen Russen war: ein Anachronismus.
Angst vor Veränderungen
Jedoch sehr viel größer als der Ärger über Arroganz und Privilegien der Mächtigen ist in Russland noch immer die Angst vor Veränderungen. Zum einen haben die Russen in den 90er Jahren selbst erlebt, dass der Kampf für eine andere Gesellschaft vor allem Opfer von jenen verlangte, die nichts oder wenig haben. Und zum anderen schauen die Russen auf die Ukraine. Der Maidan in Kiew, die Revolution von 2014, richtete sich auch zuallererst gegen die Korruption – und gerade an diesem Punkt ist sie vollständig gescheitert.