Anhaltende Proteste in Russland: Putins schwerste Krise
Zehntausende demonstrieren in Moskau erneut für freie und gerechte Wahlen. Die Polizei verhaftet Vertraute des Kremlkritikers Nawalny vor der Kundgebung.
Berlin/Moskau - Es sind denkwürdige und unbequeme Tage in Moskau. Vor 20 Jahren kam Wladimir Putin an die Macht. Am 9. August 1999 hatte ihn der damalige Präsident Boris Jelzin zum Regierungschef berufen, im Jahr 2000 wurde er zum Präsidenten gewählt. Aktuell geht es ihm vor allem um den Erhalt der Macht, die in diesen Tagen bedroht erscheint.
Am Samstag demonstrierten in Moskau erneut Zehntausende Menschen für freie Wahlen und gegen Polizeigewalt. In der größten Protestkundgebung seit Jahren verlangte die Menge, dass auch Kandidaten der Opposition zur Kommunalwahl in Moskau im September zugelassen werden. Die Polizei sprach von rund 20 000 Demonstranten. Beobachter schätzten die Zahl auf 50 000. Es war bereits der vierte Samstag in Folge, an dem die Menschen auf die Straße gingen. Anders als vorher hatten die Behörden die Demonstration diesmal genehmigt.
„Wir haben hier die Macht!“, riefen die Menschen. Und – ungewöhnlich für Russland – „Freiheit, Freiheit“. Auch bekannte Rufe wie „Russland ohne Putin“ und „Putin ist ein Dieb“ waren zu hören.
Ihren ersten Höhepunkt hatte die Bewegung vor 14 Tagen erlebt, als mehr als 20 000 Menschen zusammenkamen. An den beiden folgenden Samstagen dann der Tiefpunkt, als Behörden hart durchgriffen. Ein Großaufgebot von Polizei und Nationalgarde ging brutal gegen eine weitgehend friedliche Schar Demonstranten vor. An beiden Tagen wurden insgesamt fast 2500 Menschen festgenommen. Bilder, auf denen Polizisten und Nationalgardisten mit Schlagstöcken auf friedliche Bürger eindroschen, gingen um die Welt.
Diesmal wurde die bekannte Oppositionelle Ljubow Sobol einige Stunden vor der Kundgebung von der Polizei in Gewahrsam genommen, ihr Büro wurde durchsucht. Sobol befindet sich im Hungerstreik. Sie ist eine enge Mitarbeiterin von Alexej Nawalny, dem bekanntesten Kritiker von Präsident Wladimir Putin. Die Polizei teilte mit, sie habe Informationen gehabt, dass Sobol und andere Aktivisten während der Kundgebung eine Provokation geplant hätten.
Auch nach der friedlichen Demonstration am Samstag gab es erneut Hunderte Festnahmen. Nach Zahlen des Bürgerrechtsportals OWD-Info nahm die Polizei landesweit bei Solidaritätskundgebungen für die Moskauer Proteste mehr als 300 Menschen in Gewahrsam. 86 Festnahmen wurden St. Petersburg gezählt. In Moskau seien es 150 gewesen.
In Moskau versammelten sich nach dem Ende der genehmigten Kundgebung viele Menschen im Stadtzentrum. Die Organisatoren hatten im Vorfeld nicht ausgeschlossen, dass es weitere, als Spaziergang deklarierte Aktionen geben könnte. Auf Live-Bildern im Fernsehen war zu sehen, wie Polizisten mit Schlagstöcken östlich des Kremls Straßen und Parks abriegelten. Immer wieder war zu sehen, wie Festgenommene abgeführt wurden.
Das Vorgehen der Polizei zeugt von großer Nervosität im Kreml angesichts der relativ unbedeutenden Wahlen im September. Auch die Justiz geht hart gegen die Demonstranten vor. Seit wenigen Tagen befassen sich Gerichte mit den Aktionen der vergangenen Wochen. Bislang verhängten Richter Geld- und Arreststrafen, erlassen wegen Ordnungswidrigkeiten. Neuerdings aber wird elf Personen der Juli-Proteste „Teilnahme an Massenunruhen“ sowie „Gewaltanwendung gegen Staatsvertreter“ vorgeworfen. Gegen sie wurde Untersuchungshaft bis Ende September angeordnet. Ihnen drohen bis zu acht Jahren im Gefängnis.
Zuletzt waren aufgrund dieser Strafvorschriften Urteile nach den Massenprotesten im Winter 2011/2012 gesprochen worden. Es war das Ende der damaligen Protestbewegung. Wichtiger Unterschied: Damals ging tatsächlich auch von Demonstranten Gewalt aus, diesmal sind nur vereinzelte Fälle von verletzten Polizisten dokumentiert.
Trotz fast 100 Ermittlern sei die Beweislage diesmal ziemlich dünn, kommentierte die Zeitung „Nowaja Gazeta“. Noch dünner als bei den sogenannten Bolotnaja-Prozessen 2012. Die Ereignisse von vor sieben Jahren wiederholten sich, kommentiert die Politologin Tatjana Stanowaja vom Moskauer Thinktank Carnegie Center. Der Unterschied sei, dass sich die Protestbewegung von damals bereits im Niedergang befunden habe, während die Regierung auf festen Füßen stand. „Derzeit befindet sich Russland in einem Zustand der Unsicherheit“, sagt sie. Eine strafrechtliche Verfolgung von Oppositionellen könne diesmal mehr Protest auslösen und die Reihen der Demonstranten anwachsen lassen.
Tatsächlich lassen sich die Moskauer nicht beirren. Vor dem Wochenende hatten der Youtuber Juri Dud und der Rapper Oxxxymiron ihre Millionen Follower in sozialen Medien dazu aufgerufen, sich an den Protesten zu beteiligen. Bisher waren solche Aufrufe meist von Oppositionellen ausgegangen. Viele der nicht zur Wahl zugelassenen Kandidaten befinden sich jedoch derzeit in Gewahrsam, darunter auch Nawalny.
Die Behörden hatten ihr Vorgehen gegen Nawalny zuletzt verschärft. Am Donnerstag wurden die Konten von Nawalnys Anti-Korruptions-Stiftung sowie von einigen seiner Unterstützer eingefroren. Zudem durchsuchte die Polizei Wohnungen von Nawalny-Vertrauten. „Was wir jetzt sehen, ist der bisher aggressivste Versuch, uns zum Schweigen zu bringen“, schrieb Nawalny daraufhin in seinem Blog. (mit dpa/AFP/rtr)