Schwer angeschlagen am „Tag des Sieges“: Putin wirkt wie der Kaiser ohne Kleider im Kreml
Zur Parade in Moskau kam Russlands Präsident Putin mit leeren Händen. Einen auch noch so kleinen Erfolg in der Ukraine konnte er nicht verkünden. Ein Kommentar.
Die Parade auf dem Roten Platz in Moskau soll Russlands militärische Macht demonstrieren. Doch die Bilder vom „Tag des Sieges“ können nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Macht derzeit schwer angeschlagen ist.
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Nach dem völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine ist die angeblich so mächtige russische Armee an den Kriegszielen der eigenen Führung vorerst gescheitert: Der ukrainische Präsident ist noch im Amt, die Hauptstadt Kiew nicht gefallen, die Truppen mussten sich aus dem Norden des Landes zurückziehen. Selbst im Donbass kommt die russische Armee in diesen Tagen kaum voran.
Der Auftritt des russischen Präsidenten Wladimir Putin bei der Militärparade erinnerte deshalb an den Kaiser ohne Kleider aus dem Märchen – jeder weiß, dass der Machthaber in Wirklichkeit nackt dasteht. Es hat sich bisher nur keiner getraut, ihm das zu sagen.
Auch die Parade selbst zeigte, dass offenbar einiges nicht nach Plan läuft in Putins Russland. Anders als bei den bisherigen Feiern am „Tag des Sieges“ flog kein einziges Kampfflugzeug über den Roten Platz. Wegen des Wetters sei dieser Programmpunkt abgesagt worden, hieß es offiziell. Wer den Wahrheitsgehalt dieser Aussage überprüfen wollte, musste nur den Blick nach oben richten, auf den heiteren bis wolkigen Himmel.
Die Rede wirkte wie eine Pflichtübung
Putin kam mit leeren Händen auf den Roten Platz. Einen wie auch immer gearteten Erfolg in der Ukraine konnte er nicht verkünden. In den vergangenen Tagen und Wochen war in westlichen Hauptstädten gemutmaßt worden, der russische Präsident würde den „Tag des Sieges“ nutzen wollen, um eine Generalmobilmachung anzuordnen und den totalen Krieg auszurufen.
Doch mit nicht kampferprobten Reservisten kann Putin seinen Krieg in der Ukraine kaum gewinnen, während sich ein solcher Schritt negativ auf die Stimmung in Russland auswirken könnte.
[Lesen Sie bei Tagesspiegel Plus einen Bericht über den 9. Mai in Moskau und die Haltung der russischen Mittelschicht zu Putins Krieg.]
Die Rede des Präsidenten wirkte wie eine routinierte Pflichtübung. Die von Putin am 24. Februar ausgerufenen Kriegsziele, nämlich die „Entnazifizierung“ und die „Entmilitarisierung“ der Ukraine, erwähnte der Präsident gar nicht mehr. Nicht einmal das Land, das die russische Armee auf seinen Befehl hin angriff, nannte Putin beim Namen.
Doch um die Ukraine geht es ihm eigentlich nicht. Als treibende Kraft hinter dem Konflikt sieht er die USA, die seinen Worten zufolge in der Ukraine „Neonazis“ unterstützten.
In einer völligen Verkehrung der tatsächlichen Ereignisse wirft Putin der Nato einen Aufmarsch an den Grenzen zu Russland vor. Ein große Invasion in den Donbass und auf die Krim sei geplant gewesen, behauptet Putin, Russland habe darauf mit einem „Präventivschlag“ reagieren müssen. Bezeichnend ist, dass er sich intensiv um die Rechtfertigung des Vergangenen bemüht – und den weiteren Weg im Ungefähren lässt.
Putin erhebt Anspruch auf den Donbass
Allerdings erhob Putin an diesem „Tag des Sieges“ sehr deutlich einen Anspruch auf den Donbass, den er als „unseren historischen Boden“ bezeichnete. Den russischen Truppen, die auf dem Roten Platz versammelt sind, rief er zu, sie kämpften „für unsere Leute im Donbass, für die Sicherheit unserer Heimat Russland“.
Putin macht keinen Unterschied zwischen der Ostukraine und seinem Land – ein weiteres Zeichen dafür, dass der nächste Schritt eine Annexion der selbsternannten Volksrepubliken im Donbass sein könnte.
Was Russlands Verhältnis zum Westen angeht, sendet Putins Rede eine zwiespältige Botschaft: Einerseits wirft der Präsident dem Westen vor, die Schuld an der Eskalation zu tragen und traditionelle Werte, die Russland wichtig seien, zu bekämpfen. Andererseits verzichtet Putin am „Tag des Sieges“ auf Drohungen gegen den Westen, obwohl Moskau sonst jede Gelegenheit für sich nutzt, die Angst vor einem Atomkrieg zu schüren.
Doch die Option einer echten Eskalation des Konflikts steht Putin kaum zur Verfügung, wenn er nicht Russland mit in den Abgrund reißen will. Es wird Zeit, dass man auch in Deutschland begreift, dass der Kaiser in Wirklichkeit nackt ist.