Georgiens Präsidentin zum russischen Angriff: „Putin hat auch sein Land nicht völlig im Griff“
Georgiens Präsidentin Salome Surabischwili über die Lage ihres Landes im Ukraine-Krieg, den Widerstand Kiews und die bemerkenswerten Schwächen des Kremlchefs.
Frau Surabischwili, nach dem russischen Angriff auf die Ukraine demonstrierten Zehntausende in Tiflis – die Solidaritätsbekundungen und Proteste waren früher, größer und nachhaltiger als in den meisten anderen Ländern. Was fürchten die Georgier?
Solidaritätsbekundungen für die Ukraine haben nichts mit Angst zu tun. Sie gehen auf die langjährige Freundschaft zwischen unseren Ländern zurück. Beide waren wir Teil des russischen Imperiums, beiden kämpften wir 1918 für unsere Unabhängigkeit, nur um dann gegen unseren Willen in die Sowjetunion eingegliedert und unterdrückt zu werden. 1991 haben wir uns unsere Unabhängigkeit wieder erkämpft, wogegen Russland vorging, indem er separatistische Konflikte anzettelte. Die Ukraine und Georgien haben sehr viel gemeinsam. Das erklärt die spontane Reaktion der georgischen Zivilgesellschaft, die sich an die Seite der Ukraine stellte.
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Sie haben auch ähnliche Erfahrungen vor 14 Jahren gemacht.
2008 haben wir genau das erlebt, was die Ukraine heute durchmachen muss: einen militärischen Angriff Russlands, der in unserem Fall mit der Anerkennung von zwei abtrünnigen, sogenannten „unabhängigen“ Republiken endete, Südossetien und Abchasien. Vieles erinnert an die Situation der ukrainischen Separatistenregionen Donezk und Luhansk – mit dem großen Unterschied, dass daraus jetzt ein ausgewachsener Krieg im ganzen Land wurde. In Georgien hatte der Krieg die Hauptstadt nicht erreicht.
Wie ist die Lage in Ihrem Land – gibt es neue Spannungen in Abchasien und Südossetien?
Nein, was vor allem daran liegt, dass Georgien einseitig erklärt hat, niemals gewaltsam zu versuchen, diese Gebiete zurückzugewinnen. Wir haben auch keine Truppen an der Verwaltungsgrenzlinie stationiert. Interessant ist aber, dass die Anführer in den beiden „Volksrepubliken“ behaupten, es gebe Provokationen von georgischer Seite. Sie sind besorgt, weil das russische Militär, das in diesen separatistischen Regionen von großer Bedeutung ist, ausgedünnt wurde. Russland hat Streitkräfte und Ausrüstung von dort abgezogen und an die Front in der Ukraine geschickt. Dazu kommt die offizielle Ansage aus Moskau, dass die Separatisten sich selbst um ihre finanziellen Belange kümmern müssen und ihre Finanzierung eingeschränkt werde. Es gibt also große Besorgnis in diese Regionen, aber nicht wegen uns, sondern weil Russland Anzeichen von Schwäche zeigt.
Manche Experten meinen, der russische Präsident Wladimir Putin könnte diesen Krieg verlieren. Wie sehen Sie das?
Keiner kann derzeit mit Gewissheit sagen, wie der Krieg ausgeht. Sicher ist, dass er nicht so verläuft, wie Putin das beabsichtigte. Er hat Reaktionen provoziert, mit denen er nicht gerechnet hat: Weder hat er die Demonstration der Geschlossenheit von Seiten der Europäischen Union vorhergesehen, noch die entschlossene Position, die Frankreich und Deutschland in dem Konflikt eingenommen haben – das waren die Russen in der Vergangenheit nicht gewohnt. Auch hat er die Mobilisierung der Ukrainer unterschätzt, was er besser hätte wissen können, hätte er die Geschichte studiert: Die Ukraine hat sich lange gegen die Aggressionen von Hitler und Stalin gewehrt – auch noch lange nach dem Krieg. Das kann mal als Tradition bezeichnen.
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Hat Putin sich übernommen?
Er hat zumindest auf ein schnelles Aufgeben der ukrainischen Führung gehofft. Das ist offensichtlich nicht passiert – und auf einmal wirkt diese beeindruckende militärische Streitkraft gar nicht mehr so beeindruckend, sondern demoralisiert. Ein Teil der Ausrüstung scheint veraltet zu sein. Vieles spricht dafür, dass dies nicht als langwieriger Einsatz geplant wurde. Die Tatsache, dass Putin sich nun an China wendet und nach militärischer Ausrüstung sowie Essensrationen für die Soldaten in der Ukraine fragt, offenbart Schwäche – auch wenn Putin gerne die Ängste vor einem solchen Bündnis schürt.
Sie erwähnten die entschlossene Antwort der EU auf Putins Angriff. Ihr Premierminister allerdings hat die Sanktionen des Westens verurteilt – was Sie kritisiert haben.
Ich habe diese Position nicht kritisiert. Es ist etwas komplizierter. Wir setzen viele der Sanktionen um, zum Beispiel alle finanziellen Strafmaßnahmen. Auch haben wir unsere eigenen Sanktionen: Wir haben keine diplomatischen Beziehungen mit Russland, es gibt keine direkten Flugverbindungen, und die beiden besetzten Gebiete bedeuten für uns quasi permanente Sanktionen. Georgien trägt alle Resolutionen der internationalen Gemeinschaft mit, die Russland verurteilen. Wir tun, was wir können. Aber unsere Situation ist durch die besetzten Gebiete und weil wir zu den westlich orientierten Ländern gehören, die nicht durch eine Zugehörigkeit zu Nato oder EU geschützt sind, eben eine besondere. Das erkennen unsere Partner an. Auch wenn unsere Möglichkeiten etwas begrenzt sind: Unsere Solidarität ist grenzenlos. Am Montag habe ich meine jährliche Rede im Parlament gehalten, und bei dieser Sitzung war der Vertreter der Ukraine anwesend wie in vielen anderen Parlamenten. Georgien ist Teil der internationalen Gemeinschaft in ihrer Reaktion auf diesen schrecklichen Krieg.
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Vor zwei Wochen waren Sie selbst in Paris und Brüssel, um für Unterstützung mit Blick auf eine EU-Mitgliedschaft zu werben. Wie groß sind Ihre Hoffnungen, dass diese nun tatsächlich rasch Wirklichkeit werden könnte?
Durch den Widerstand der Ukraine hat sich Europa verändert. Ich glaube, die Erkenntnis reift, dass diese langwierigen Beitrittsprozesse zu den Erwartungen jener Länder nicht mehr passen, die noch nicht in der EU sind und niemals mehr Teil einer Sowjetunion oder eines ähnlichen Konstrukts sein werden. Klar ist: Es muss etwas geschehen, und es muss schneller und politischer geschehen als bisher.
Gilt das auch für die Nato?
Neue politische Perspektiven sehe ich eher in der EU. Hier findet das Umdenken statt.
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Welchen Rat geben Sie der Regierung in Kiew aufgrund Ihrer Erfahrungen mit 2008?
Niemand kann Kiew derzeit einen Rat geben. Denn die Regierung meistert diese Situation auf beeindruckende Art und Weise: sowohl, was die Einheit im eigenen Land betrifft, als auch die internationale Diplomatie. Ich kann mich in der jüngeren Geschichte an kein Land erinnern, das die internationale Gemeinschaft besser hinter sich versammelt hätte. Präsident Wolodymyr Selenskyj hält den Druck in jeder Minute aufrecht. Daher würde ich es nicht wagen, ihm irgendeinen Ratschlag zu erteilen, wie er es besser machen könnte.
Die Amerikaner hat Selenskyj bisher noch nicht so weit gebracht, wie er es gerne hätte. US-Präsident Joe Biden warnt vor einem dritten Weltkrieg, sollte die Nato direkt in den Krieg verwickelt werden, und vermeidet es, rote Linien zu ziehen. Interpretiert Putin dies als Schwäche?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Putin derzeit irgendein Zeichen von Schwäche erkennen kann. Als Anführer eines autoritär regierten Landes denkt er vielleicht, dass der Westen mehr militärische Macht demonstrieren müsste. Aber er wird schon bald verstehen, dass Demokratien sich anders verhalten. Entscheidend sind nicht die militärischen Mittel, sondern die Geschlossenheit der Gesellschaften, Sanktionen, eine freie Öffentlichkeit. Putin versucht, in Russland alle Informationen zu kontrollieren. Aber schon jetzt sehen wir, dass er auch seine eigene Gesellschaft weniger im Griff hat, als er offenbar dachte.