Infektiologe im Interview: „Problem beim RKI sind fehlende ausführliche Daten“
Andrew Ullmann ist Professor für Infektiologe und sitzt für die FDP im Bundestag. Er unterstützt den kritischen Kurs seiner Partei in der Coronakrise.
Herr Ullmann, ihr Fraktionskollege und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki warf dem Robert Koch-Institut gerade vor, „politisch motivierte“ Zahlen zu Corona-Neuinfektionen zu verbreiten. Sie sind, als Professor für Infektiologie der Universität Würzburg, sehr mit der Arbeit des RKI vertraut. Teilen Sie Kubickis Eindruck?
Ich hätte das so nicht formuliert. Ein Problem beim RKI sind aber tatsächlich fehlende ausführliche Daten zum R-Faktor, also zur Reproduktionszahl bei den Neuinfektionen. R0 müsste regional unterschieden werden, und es nützt wenig, das nur auf Bundes- oder Länderebene zu machen. Eine lokale Betrachtung hingegen hilft enorm dabei, Infektionsgeschehen räumlich einzugrenzen. Die R0-Zahlen sind keine absoluten Gewissheiten, denn je näher wir zum Jetztpunkt kommen, umso ungenauer ist diese Zahl. Hier wünsche ich mir auch mehr Details vom RKI, gerade weil unter anderem auf dieser Grundlage politische Entscheidungen getroffen werden. Vor allem sollte es darum gehen, regionale Clusterbildungen festzustellen, die das Potential haben, als Ausgangspunkt für die sehr wahrscheinlich kommende zweite Corona-Welle zu dienen. Diese wird wahrscheinlich im Herbst oder im Winter da sein. Diese Welle darf nicht katastrophal sein, das haben wir in der Hand.
Die FDP ist innerhalb des demokratischen Spektrums im Bundestag die Partei, die sich in den zurückliegenden Wochen am deutlichsten für ein Hinterfragen der Lockdown-Maßnahmen ausgesprochen hat – sie wird dafür auch sehr stark kritisiert, teils auch angefeindet. Wie empfinden Sie das?
Ich finde es in einer Demokratie richtig, über die Sinnhaftigkeit des Lockdowns genauso zu diskutieren wie über die Sinnhaftigkeit von Lockerungen. Natürlich muss man hinterfragen, ob Regeln, die von der Regierung festgelegt werden, sinnvoll und wissenschaftlich fundiert sind. Und deshalb unterstütze ich auch die Forderung von Christian Lindner, alle Entscheidungen zur Corona-Eindämmung wöchentlich zu überprüfen: Natürlich mit dem Hintergrundwissen, dass man die Effekte der Maßnahmen immer mit zwei Wochen Verzögerung sehen kann. Ich finde es gut, dass meine Partei diese Diskussion eröffnet hat. Wir fordern ja nicht, dass alle Maßnahmen eingestellt werden.
In Teilen der Bevölkerung scheint sich derzeit ein wenig Frust auszubreiten darüber, dass es aus der Wissenschaft keine klaren Empfehlungen gibt und auch sich widersprechende Aussagen – NRW-Ministerpräsident Armin Laschet von der CDU hat sich kürzlich in diese Richtung geäußert. Wie erklären Sie in Ihrem Wahlkreis, wenn Sie als Experte beider Sphären darauf angesprochen werden?
Es existieren ja neben Epidemiologen und Virologen eben auch Hygieniker, Mikrobiologen, Soziologen, Pädagogen und zig andere Wissenschaftsrichtungen. Auch wenn alle auf die gleichen Daten schauen, müssen sie diese interpretieren, dadurch entstehen verschiedene Meinungen. Da gibt es Grautöne, nicht falsch und richtig. Außer bei Naturgesetzen gehen wissenschaftliche Meinungen sehr weit auseinander, das ist vielen aber nicht klar. Daher gibt es nicht die eine Empfehlung. Zudem gilt, dass auch Wissenschaftler dazu lernen müssen. Wir als Infektiologen zum Beispiel neigen dazu, uns an Maßnahmen im Krankenhaus zu orientieren, wenn wir Infektionswege betrachten – und dann dazu, das in die freie Natur zu übertragen. Aber plötzlich müssen wir uns nun etwa mit der Physik von Aerosolen beschäftigen, Physiker zu Rate ziehen. Es gibt also gute Gründe, bei der Bekämpfung der Pandemie und der Abschätzung der sozialen Folgen möglichst viel Expertise an einen Tisch zu bringen – natürlich auch solche aus den Human- und Sozialwissenschaften.
Man hört gerade oft den Vorwurf, Deutschland würde von Virologen regiert.
Den Eindruck habe ich nicht. Die Politik trifft die Entscheidungen, und die sind auch nicht immer kongruent zu den Empfehlungen der Wissenschaft. Da zieht sich ja auch jeder gerne mal den Virologen als Kronzeugen heran, dessen Position er oder sie gerade teilt.
Tut es Ihnen weh zu sehen, wie Wissenschaftler gerade in die Mühlen der Politik gezogen werden? Denkt man zum Beispiel an Hendrik Streeck, einen renommierten Wissenschaftler, der für seine Heinsberg-Studie von Teilen der Öffentlichkeit regelrecht verprügelt wurde? Oder Alexander Kekulé, der ja nicht ohne Grund ein führender Mikrobiologe ist?
Ich finde das furchtbar, gerade bei Herrn Streeck. Er hat die Daten aus Heinsberg vorgestellt und immer die begrenzte Aussagekraft betont – das wurde dann zu einer politischen Botschaft gehypt, und zwar von der Landesregierung, nicht von Streeck. Bei Herrn Kekulé ist es im Prinzip ähnlich, wobei er gerne mit steilen Thesen an die Öffentlichkeit geht, schon vor Corona. Dieses Verhalten kann durchaus helfen, der Infektionsbiologie eine größere Aufmerksamkeit zu verschaffen, in diesen Zeiten kann es aber auch zu viel sein. Wie gesagt, diese Pandemie ist für alle Beteiligten ein Lernprozess. Aber Herr Streeck wie auch Herr Drosten betonen immer wieder vorbildlich, dass sie Daten interpretieren und eben keine politischen Entscheidungen treffen.
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Verwirrt es die Öffentlichkeit, dass aktuell mit der Wissenschaft und der Politik zwei Sphären derart verwoben sind, so dass klare Rollenzuweisungen verloren gehen?
Das kann schon sein. Für mich persönlich war ja die Hauptmotivation, in die Politik zu gehen, dort wissenschaftliche Expertise hineinzubringen. Und ich hatte am Anfang durchaus Sorge, ob ich es schaffe, mit den eingeübten Diskursregeln der Wissenschaft in der Politik zu bestehen – zum Glück hatte ich schon Erfahrungen in der Kommunalpolitik. Aber eine wissenschaftliche Perspektive ist genau das, was wir jetzt brauchen, als Gegenstimme zu den Populisten. Von daher ist das einer der sehr wenigen positiven Nebeneffekte der Pandemie: Dass die Politik auf die Wissenschaft hört und umgekehrt auch das Verständnis wächst.
Wenn es nach Ihnen geht: Wie sieht Corona-Deutschland in einem Jahr aus? Alles wieder so wie früher?
Das sicher nicht. Es wird eine neue Normalität geben, auf Basis von Masken und Abstandsregeln. Aber vielleicht können wir im Frühjahr zumindest über die alte Normalität wieder sprechen. Unter Umständen haben wir bis Ende des Jahres Medikamente, um die schweren Fälle besser behandeln zu können. Und mit etwas Glück bekommen wir im kommenden Jahr auch schon einen Impfstoff.
Andrew Ullmann ist Professor für Infektiologie an der Würzburger Julius-Maximilians-Universität und Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie, internistische Onkologie und Infektiologie. Für die FDP sitzt er seit dieser Legislatur im Bundestag und dort im Gesundheitsausschuss sowie im Unterausschuss für Globale Gesundheit.
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