17-jähriger Todesschütze von Kenosha: Polizisten waren seine Superhelden
Ein Schwarzer ist schwer verletzt, zwei Weiße sind tot. Nach einem brutalen Polizeieinsatz eskalierte die Gewalt in der US-Stadt. Eine Rekonstruktion.
Als der 17-jährige Kyle Rittenhouse mit einem halbautomatischen Gewehr über der Schulter und erhobenen Armen auf die Polizeiautos zugeht, da hatte er gerade mutmaßlich zwei Menschen erschossen. Kurz zuvor hatte der Junge aus Antioch in Illinois verschiedenen Reportern Interviews gegeben, in denen er erklärt, dass er nach Wisconsin gekommen sei, um Verletzten zu helfen und Gebäude zu schützen.
Und dabei müsse er sich "offensichtlich auch selbst verteidigen können" - daher die Waffe. Die Beamten beachten Rittenhouse in dem Moment nicht weiter, sie fahren mit Blaulicht an ihm vorbei, das zeigen Videoaufnahmen der "New York Times".
Aber von Anfang: Nachdem ein weißer Polizist einen Schwarzen am Sonntagabend sieben Mal in den Rücken schoss, überschlagen sich in der 110.000-Einwohnerstadt Kenosha im US-Bundesstaat Wisconsin die Ereignisse. An jenem Abend hatte ein Passant gefilmt, wie der 29-jährige Familienvater Jacob Blake von zwei Beamten mit erhobenen Waffen verfolgt wird. Die Aufnahme zeigt, wie Blake im Schritttempo vor den Beamten weggeht.
Als er dann die Tür zu seinem Auto öffnet und einsteigen will, packt ihn einer der Polizisten am T-Shirt und schießt Blake in den Rücken. Drei von Blakes Kindern sehen die Tat aus dem Inneren des Wagens mit an. Blake überlebt mit zahlreichen Organschäden, er soll von der Hüfte abwärts gelähmt sein.
Wie der Polizeieinsatz ausgelöst wurde, ist nicht abschließend geklärt. Der Generalstaatsanwalt des Bundesstaates Wisconsin, Joshua Kaul, sagte, die Polizei sei von einer Frau gerufen worden, die gesagt habe, dass ihr Freund unerlaubterweise anwesend sei. Kaul ging nicht darauf ein, ob damit Blake gemeint gewesen sei. Jacob Blakes Anwalt hatte zuvor gesagt, der 29-Jährige habe einen Streit geschlichtet.
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Am Donnerstag verkündete Generalstaatsanwalt Kaul dann noch, dass ein Messer in Blakes Auto gefunden worden sei. Das Justizministerium des Bundesstaats Wisconsin kündigte zudem an, binnen 30 Tagen einen Bericht vorlegen zu wollen.
Das Video des Einsatzes hatte sich Anfang der Woche in den sozialen Netzwerken wie ein Lauffeuer verbreitet. Es erinnert an eine Serie rassistischer Polizeieinsätze - insbesondere an die brutale Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch einen Polizisten Ende Mai in Minneapolis.
In der Nacht zum Montag begannen dann in Kenosha die Proteste. Häuser, Autos und Mülltonnen wurden in Brand gesetzt, Polizisten in Schutzausrüstung rückten aus. Es kam zu einzelnen Zusammenstößen, die sich im Verlauf der Woche steigerten.
Was ist über Kyle Rittenhouse bekannt?
In der Nacht zu Dienstag wird bereits eine Ausgangssperre verhängt. Wisconsins Gouverneur Tony Evers erlaubt den Einsatz der Nationalgarde, um lokale Einsatzkräfte zu unterstützen. Friedliche Proteste weichen in den Abendstunden den Aggressionen einzelner Demonstranten. Reporter posten auf Twitter Videos von ausgebrannten Häusern und Ladenzeilen.
Am Dienstag macht sich dann der 17-jährige Kyle Rittenhouse aus dem etwa 30 Minuten entfernten Antioch in Illinois auf den Weg nach Kenosha. Laut einem Bericht der "Washington Post" soll Rittenhouse die Schule abgebrochen haben. Mehrere Postings auf seinen Social-Media-Konten deuten auf seine Unterstützung der Blue-Lives-Matter-Bewegung hin, eine Kampagne, die von Polizeibeamten initiiert wurde.
Seine Affinität zu Waffen ist ebenfalls nicht zu übersehen: Auf Videos zeigt Rittenhouse, wie er Schießübungen im Hinterhof macht, mit Schusswaffen posiert und ein Sturmgewehr zusammenbaut. Zudem wird er in verschiedenen Zeitungsartikeln als Unterstützer des US-Präsidenten Donald Trump beschrieben. Die "Washington Post" berichtet von Nachbarn, die ihn als Polizei-Fanatiker beschreiben. Ordnungskräfte sollen seine Superhelden sein.
Was geschah in der Nacht zu Mittwoch?
Ein Expertenteam der "New York Times" analysierte stundenlanges Filmmaterial, um die Bewegungen von Rittenhouse in der Nacht zum Mittwoch vor und während der tödlichen Schießerei zu rekonstruieren. Daraus ergibt sich dann der folgende Ablauf des Geschehens:
Etwa 15 Minuten vor dem ersten Schusswechsel steht der 17-Jährige mit anderen bewaffneten Zivilisten vor einem Autohaus. Er behauptet, er würde es bewachen.
Polizeibeamte fahren an der Gruppe vorbei, Rittenhouse geht mit seinem Gewehr auf ein Polizeifahrzeug zu und spricht mit den Beamten. Dann verlässt er das Areal. Sechs Minuten später zeigen Aufnahmen, wie er von einer nicht näher identifizierbaren Menschengruppe einige Blocks entfernt auf den Parkplatz eines anderen Autohauses gejagt wird.
Die erste Schießerei beginnt: Während Rittenhouse von der Gruppe verfolgt wird, schießt ein unbekannter Mann in die Luft. Rittenhouse wendet sich dem Geräusch der Schüsse zu, als sich ein anderer Verfolger aus derselben Richtung auf ihn stürzt. Rittenhouse feuert viermal. Der 36-Jährige stirbt an den Verletzungen.
Rittenhouse flieht vom Tatort. Mehrere Personen verfolgen ihn, einige schreien: "Das ist der Schütze!" Rittenhouse stolpert und fällt zu Boden. Er feuert vier weitere Schüsse ab, als drei Personen auf ihn zulaufen, darunter der 26-jährige Anthony Huber. Huber versucht, Rittenhouse mit seinem Skateboard am Schießen zu hindern. Er wird in die Brust getroffen und stirbt. Ein anderer Mann mit Handfeuerwaffe wird am Arm getroffen und rennt weg. Zusätzlich zu Rittenhouses Schüssen sind mindestens 16 weitere Schüsse zu hören.
Die Szenen wirken wie eine Rauferei unter Jugendlichen, mit dem Unterschied, dass dabei Menschen erschossen wurden. Rittenhouse richtet sich wieder auf und läuft mit erhobenen Armen auf Polizeiautos am Ende der Straße zu. Menschen, die die Szenerie beobachtet hatten, rufen den Beamten zu, dass Rittenhouse gerade Menschen erschossen habe. Die Polizei aber fährt ohne anzuhalten an dem 17-Jährigen vorbei zu den Opfern. Erst am darauffolgenden Morgen wird Rittenhouse in seiner Heimatstadt Antioch festgenommen. Er soll nun des Mordes angeklagt werden.
"Ein weißer Rassist, der Weiße umbringt"
Der Reporter Elijah Schaffer, der während der Berichterstattung zu Kenosha vor allem durch kontroverse Beiträge auffällt, schreibt auf Twitter: “Das ist seltsam, ich habe ihn (Kyle Rittenhouse, Anm. d. Redaktion) auf Video, wie er den BLM-Demonstranten medizinische Hilfe anbietet. Es ist eine seltsame Welt (...) weiße Rassisten, die Hilfe für Black Lives Matter anbieten und Weiße töten.” Ob Rittenhouse tatsächlich rassistische Motive hatte, ist derzeit nicht bekannt.
Was passiert jetzt auch in anderen Städten?
In der Nacht zum Donnerstag kam es erneut vielerorts zu Protesten, darunter in Los Angeles, Oakland (Kalifornien), Portland (Oregon) und Minneapolis (Missouri), wo George Floyd vor einigen Monaten getötet wurde. In Kenosha blieb es zunächst weitgehend friedlich. Es galt erneut eine nächtliche Ausgangssperre.
Auch Präsident Trump hatte am Mittwoch Sicherheitskräfte der Bundesregierung nach Kenosha beordert. Er werde „Plünderungen, Brandstiftung, Gewalt und Gesetzlosigkeit auf amerikanischen Straßen nicht tolerieren“. Der demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden forderte Gerechtigkeit und ein Ende der Gewalt. Er sprach nach eigenen Angaben am Mittwoch mit der Familie Blakes. „Was ich in diesem Video gesehen habe, macht mich krank“, sagte er danach. Zugleich rief er zu friedlichen Protesten auf.
Nach den Vorfällen der vergangenen Tage machten auch US-Sportler ihre Wut und Enttäuschung über die Polizeigewalt im Land so deutlich wie nie zuvor. Ausgelöst von einem historischen Playoff-Boykott des Basketball-Teams Milwaukee Bucks verzichteten am Mittwoch Teams und Spieler in mehreren US-Ligen auf ihre Wettkämpfe. Die stärkste Frauen-Basketball-Liga der Welt, die WNBA, verzichtete wie die NBA auf alle geplanten Partien für den Tag. In der Major League Soccer fanden fünf der sechs geplanten Spiele des Tages nicht statt. Auch in der Major League Baseball wurden am Mittwoch Begegnungen abgesagt.
Am Freitag werden Tausende Demonstranten beim “Commitment March: Get Your Knee off our Necks” (zu Deutsch: Verpflichtungsmarsch, nehmt euer Knie von unseren Nacken) in Washington D.C. erwartet. Initiiert wurde die Großdemo von dem Bürgerrechtler und Baptischem Prediger Al Sharpton, um gegen die anhaltende Polizeibrutalität aufmerksam zu machen. Mit Blick auf die Vorkommnisse in Kenosha werden am Freitag besonders viele Teilnehmer erwartet.