zum Hauptinhalt
Alexandra Thein in ihrem Bürgerbüro.
© Doris Spiekermann-Klaas

Europäische Union: Politikerin sucht Bürger

Alexandra Thein sitzt für die Berliner FDP im Europäischen Parlament. Zu Hause bekommen die Menschen davon kaum etwas mit. Über das Problem, Europa zu erklären.

Die Nacht ist kalt, irgendwo heult eine Alarmanlage. Alexandra Thein fröstelt, stützt sich auf das Balkongeländer und atmet tief durch. Es ist weit nach zehn, sie ist mit dem späten Flug aus Berlin in Brüssel gelandet. Sie schaut auf Hinterhofdächer und Bäume, sie ist gern hier draußen. „Ich habe mir dieses Jahr extra Terrassenmöbel gekauft“, sagt sie und zeigt auf eine Sitzecke, der die Kissen fehlen. „Für die schönen Tage und für Besuch.“ Aber bisher war noch niemand da.

In der Dachgeschosswohnung lehnen zwei Koffer an der Küchenzeile. Einer für Kleidung, der andere für Unterlagen. Die Papiere wird Alexandra Thein nachts noch lesen. Im Bett, wenn es sein muss. Die wenigen Möbel hat sie von ihrem Vormieter übernommen. Zwei Stühle hat sie aus Berlin mitgebracht und das grüne Kissen mit dem Hasenmotiv, das auf dem weißen Sofa liegt. Die Berliner FDP-Europaabgeordnete ist hier seit drei Jahren zu Hause. Und ist es doch nicht.

Alexandra Thein lebt in Fußnähe vom Europäischen Parlament und anderthalb Flugstunden entfernt von ihren Wählern. Zu weit weg, zu komplex: Bei der letzten Europawahl gab in Deutschland nicht mal die Hälfte der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Dazu kommt jetzt noch der Frust über die Euro-Krise, laut Umfragen schwindet auch das Vertrauen in die Brüsseler Institutionen. Dabei gehört Thein als Parlamentarierin zur einzigen EU-Institution, die der Bürger direkt wählen kann. Irgendwo ist der Kontakt abgerissen, auch wenn man wirklich nicht sagen kann, dass sich niemand bemüht.

Morgens läuft Alexandra Thein zum riesigen Glaspalast des Europäischen Parlaments am Place de Luxembourg. Kleine schnelle Schritte, zum Schlendern hat sie keine Zeit. Ihr Terminplan für diesen und die nächsten Tage hat keine Lücken. Morgens um acht die erste Besprechung, die letzte bei einem beruflichen Abendessen ab 21 Uhr. Am Donnerstagabend machen sich viele Delegierte und Funktionäre, die nicht in Brüssel leben, wieder auf den Rückweg in ihre Heimatländer.

Im Turm G im zehnten Stock haben die Liberalen ihre Büros. Zwölf deutsche FDPler sind es, sie gehören zur Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE), die 86 von insgesamt 754 Abgeordneten im Europaparlament stellt. Zwei Zimmer, in einem steht Theins Schreibtisch, im anderen warten schon ihre Assistenten. Die 49-Jährige ist Mitglied im Rechtsausschuss (JURI) und stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für konstitutionelle Fragen (AFCO). Zudem ist die zierliche Frau mit den langen blonden Haaren, die gerne auch mal komplett pink oder Schmetterlingsmuster trägt, Mitglied der Delegationen für Palästina, Irak und Israel. Mehrmals im Jahr reist sie in den Nahen Osten. Heute redet Alexandra Thein im Rechtsausschuss unter anderem über binationale Scheidungen. Mit solchen juristischen Themen fühlt sich die Rechtsanwältin und Notarin am wohlsten, auch wenn sie für Laien und Wähler oft nicht so einfach zu verstehen sind. Wer kennt sich schon damit aus, wie Wirtschaftsprüfer arbeiten, deren System neu geordnet werden soll? Auch hierfür ist Thein zuständig. „Der Rechtsausschuss passt zu mir“, sagt sie. „Manche Politiker denken ja, sie können alles.“ Davon hält sie nicht viel, sie kann Jura.

In Brüssel fällt die Abwesenheit der Bürger nicht weiter auf

Das Europa-Parlament in Straßburg.
Das Europa-Parlament in Straßburg.
© dpa

Alexandra Thein wollte schon immer zur EU. Sie wuchs im Saarland nahe der französischen Grenze auf, begeistert von der Idee eines Europas ohne Grenzen. Heute wird ein Großteil der Gesetze in Brüssel verabschiedet und in Deutschland nur noch umgesetzt, hier will sie mitentscheiden. „Die fünf Jahre sehe ich als absolute Chance, das zukünftige Europa mitzugestalten“, sagt sie. 1990 trat sie der FDP bei, bis zur Europawahl war sie im Berliner Landesvorstand aktiv, aber nie in der Bundespartei. Sie kann knallhart argumentieren. So ergatterte sie auf dem Europaparteitag der Liberalen Listenplatz elf. 2009 gewann die FDP überraschend zwölf Sitze bei der Europawahl, Thein war drin. Mindestens bis zur nächsten Wahl 2014 ist ihr Leben nun ein Dreiklang. Berlin, Brüssel, Straßburg. Ein Leben aus dem Koffer, bei dem sie den Bürger zwar ständig vertritt, ihn aber selten sieht.

In Brüssel fällt die Abwesenheit des Bürgers allerdings gar nicht weiter auf, im Kosmos der europabegeisterten Abgeordneten, Praktikanten und Assistenten herrscht immer Betrieb. Vorbei geht es am Frisör, dem Blumenladen, dem Supermarkt, der Wäscherei, den Restaurants und dem Fitnessstudio zum Sitzungssaal des Rechtsausschusses. Außer zum Schlafen müssen die Abgeordneten das Gebäude nicht verlassen – im Notfall gibt es sogar eine Dusche in jedem Büro. Dort lagert Alexandra Thein aber lieber Akten. Im Sitzungssaal 5B01 stimmt sie dann über Berichte ab, in denen der verantwortliche Abgeordnete empfiehlt, wie sich das Parlament zu Gesetzesvorschlägen der Kommission verhalten soll. Die Berichte, die es durch die Ausschüsse schaffen, kommen ins große Plenum nach Straßburg zur Abstimmung.

Einmal im Monat reisen alle 754 Europaabgeordneten plus Verwaltung nach Straßburg, um vier Tage lang über die Belange der Union abzustimmen. Viele nervt der Wechsel zwischen den Parlamentsstandorten, den Parlamentariern sind die dadurch entstehenden Kosten peinlich. Aber so steht es in den europäischen Verträgen, und deshalb haben sie alle ein Jahresabo für Hotelzimmer, parken ihren Koffer unter dem Übergangsschreibtisch und machen sich an die Arbeit. Im Plenum beginnen die ersten Diskussionen morgens um neun, mittags wird abgestimmt, dann wieder Diskussionen bis 23 Uhr. Vor Mitternacht sind die Berlinerin und ihre Assistenten selten im Hotel.

„Das Wort hat Alexandra Thein für zwei Minuten.“ Als ihr Name auf den riesigen Bildschirmen im Straßburger Plenarsaal erscheint, steht sie in der letzten der 14 Stuhlreihen auf. Wie ein Schatten zeichnet sie sich gegen die hohe Lichterwand des Saals ab. Weil die Abgeordneten die Zeit in Straßburg zwischen den Abstimmungen für Termine nutzen, ist zwar kaum jemand im Plenum – trotzdem ist es wichtig für Thein, auch auf der großen Bühne zu ihren Themen zu reden. Sie blickt über dreizehn leere Sitzreihen hinweg fest die Sitzungsleitung an. Sie spricht über die europaweite Nutzung von „verwaisten Werken“, das sind urheberrechtlich geschützte Werke, deren Rechteinhaber nicht ermittelt werden können. Ihren Sprechzettel hat sie sich vorab ausgedruckt. Eine Seite in Schriftgröße zwanzig ist eine Minute. Sie wendet das Blatt und platziert ihr abschließendes „Danke“ exakt bei 1:59. Sie packt ihre Handtasche und verlässt den Saal – auch sie hat zu viel zu tun, um all den anderen nach ihr zuzuhören.

Als sie später zu den Abstimmungen zurückkehrt, ist die Atmosphäre im Plenum völlig anders als zur Redezeit am Morgen. Die Reihen sind bis obenhin gefüllt, abgestimmt wird zum Beispiel über die Forderungen nach neuen Energieeffizienz-Regeln oder nach besserer Überwachung von Medikamenten. Nach den letzten „Votes“ und einem Treffen mit Lobbyisten, die auch extra nach Straßburg mitreisen, um den Abgeordneten kurz vor knapp ihre Sichtweise der Dinge nahezubringen, geht Thein ins Büro zurück. Gegessen hat sie den ganzen Tag nicht viel, keine Zeit. Sie korrigiert eine Pressemitteilung für den kommenden Tag, die ein Mitarbeiter entworfen hat.

In ihrem Berliner Wahlkreis erkennt niemand sie auf der Straße

Manchmal schickt das Büro von Alexandra Thein bis zu zwei Pressemitteilungen am Tag raus, in der Zeitung landet sie damit so gut wie nie. Zu kompliziert die Themen: „Liberale Gesetzesinitiative macht ,verwaiste Werke’ wieder nutzbar“, lautet diesmal die Überschrift. Äußert sie sich zu populäreren Themen wie der Syrien-Resolution des Parlaments, dann ist ihr Name zu unbekannt. Das ärgert Thein – auch wenn sie das so direkt nie zugeben würde. Sie redet oft davon, dass die Abgeordneten aus anderen Ländern in der Heimat stärker wertgeschätzt werden. In Deutschland werden Europaabgeordnete nur selten in Talkshows eingeladen, die große innenpolitische Karriere wartet nur auf wenige. Aber nicht nur bundesweit ist Thein unbekannt, auch in ihrem eigenen Berliner Wahlkreis erkennt sie niemand auf der Straße.

Sieben Wochen im Jahr sieht der Kalender des Europaparlaments für den Wahlkreis vor. „Das ist viel zu wenig“, sagt sie selbst. Ein Mitglied des Bundestags verbringt zwei Wochen im Monat beim Wähler. Sie versucht also, wenn sie am Wochenende mal zu Hause und nicht auf Dienstreise ist, auch berufliche Termine in Berlin wahrzunehmen. Ein FDP- Stammtisch oder ein Fest der irakischen Gesellschaft zum Beispiel. Manchmal sieht sie deshalb ihren Mann, mit dem sie seit 18 Jahren verheiratet ist, wochenlang so gut wie nicht.

Theins Berliner Wahlkreisbüro ist in ihrer Notariatskanzlei untergebracht. Die wiederum liegt in der Marburger Straße, über einem asiatischen Restaurant, direkt beim Europa-Center. Eigentlich keine besonders schwer zugängliche Gegend. Im Raum gleich links hinter der Eingangstür könnten sich die Bürger informieren, eine Fahne hängt hier, Infobroschüren gibt es, Kugelschreiber auch. Sie empfängt hier häufiger Kleinunternehmer, Verbandsvertreter. Nur die Bürger, die kommen nicht.

„Ich habe viel versucht“, sagt sie. Nach ihrer Wahl wollte sie ein Wahlkreisbüro in einer Fußgängerzone aufmachen, schreckte dann aber zurück, als sie sah, wie teuer so was ist. „Dann wollte ich eine Bürgersprechstunde einführen.“ Sie inserierte in den Zeitungen, die kostenlos in Berlin verteilt werden, einmal sogar auf Seite eins. In Zehlendorf im Rathaus bot sie eine Bürgersprechstunde an. In Charlottenburg auch. Zur Krise hätten die Menschen sie befragen können, zur Heirat oder Scheidung über Ländergrenzen hinweg, auch mit Verfassungsfragen kennt sie sich aus. Mehrere Stunden saß sie dort mit ihrem Mitarbeiter. Einmal kamen über den Tag verteilt fünf Leute, ein andermal zwei. Die schimpften alle auf Europa. Keine Fragen, keine Anliegen. Ein drittes Mal hat Thein das Experiment nicht wiederholt.

Immer wieder sitzt sie auf Podien, diskutiert und gibt Antworten, hofft, dass davon etwas hängen bleibt. Zu Herbstbeginn bei einer solchen Veranstaltung im Wappensaal des Berliner Senats: 130 Berliner sind gekommen, der Saal ist voll. Es sieht nicht so aus, als interessiere sich hier niemand für Europa. Die Leute wollen wissen, was die Abgeordneten da vorne zur Krise zu sagen haben. Also reden Thein und die anderen Europa-Delegierten erst einmal eine Stunde über die Krise – auch wenn es eigentlich um Bürgerbeteiligung gehen sollte.

Wie man sich denn so fühle „als zahnloser Tiger“, fragt einer. Da klafft sie, die Lücke zwischen der Selbstwahrnehmung der Abgeordneten und ihren Wählern. Thein setzt an, das System der Gesetzgebung zu erklären, wie viel Einfluss das Europäische Parlament hat und was die Aufgabe der Kommission ist. Das klingt alles sehr technisch. Viele schauen an die Decke. Oder auf die Wappen an den Fenstern. Dann schlägt Thein eine Bürgerreise vor, die EU finanziert diese Projekte. Fünf oder sechs Interessierte zählt sie, die es wirklich ernst meinen. Sie schreibt sich die Nummern und E-Mailadressen auf. Vielleicht kann sie ihnen ein Stück ihrer Welt näherbringen. Es ist ja eigentlich dieselbe.

Zur Startseite