Hungerstreik für das Klima: Politik darf sich erpressen lassen – ausnahmsweise
In Berlin sind Klimaaktivisten in einen Hungerstreik getreten. Sie fordern ein Gespräch mit den drei Kanzlerkandidaten. Die sollten nachgeben. Ein Kommentar
Es gibt die reine Lehre. Ihr zufolge ist die Sache klar. Denn die Grundlage der reinen Lehre findet sich in Sätzen wie: Politik darf sich nicht erpressen lassen. Da könnte ja jeder kommen. Wenn das alle täten. Heute das Klima, morgen die Fahrradwege, übermorgen die Coronaregeln. Und zum Schluss: Was glauben die eigentlich, wer sie sind?
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Sie, das sind vier Hungerstreikende in Berlin. Seit 23 Tagen haben sie nichts gegessen. Es sind sogenannte Klimaaktivisten. Sie fordern ein öffentliches Gespräch mit den drei Kanzlerkandidaten Olaf Scholz, Armin Laschet und Annalena Baerbock noch vor der Bundestagswahl. Als Termin schlagen sie den 23. September um 19 Uhr vor. Sobald sie eine Zusage bekommen, wollen sie den Hungerstreik beenden.
Gravierende gesundheitliche Folgen
Ursprünglich waren es sechs, die die Nahrungsaufnahme verweigerten. Zwei davon mussten die Aktion aus physischen und psychischen Gründen abbrechen. Jetzt sind vier weitere hinzugekommen. Falls das Gespräch nicht stattfindet, wollen einige auch aufs Trinken verzichten. Man muss kein Mediziner sein, um zu ahnen, wie gravierend die gesundheitlichen Folgen – bis hin zu Spätschäden – sein können.
Was immer sich an Einwänden gegen diese Aktion vorbringen lässt, stimmt. Die Hungerstreikenden wollen die Politik erpressen. Sie leben in einer Demokratie, können von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen wie alle anderen. Sie instrumentalisieren die mediale Öffentlichkeit für ihre Interessen.
Was sie machen, ist freiwillig. Sie können jederzeit damit aufhören und wieder zu essen anfangen. Hungerstreik – das ist sonst der letzte Ausweg verzweifelter Menschen, die in einer Diktatur drangsaliert werden. Sich in diese Tradition zu stellen, ist anmaßend, ja frech.
Manchmal geht Gnade vor Recht
Trotzdem. Was wäre das für eine große Geste der Humanität, wenn die drei Kanzlerkandidaten über ihren eigenen Schatten springen, auf die reine Lehre pfeifen und sich zu einem kurzen gemeinsamen Gespräch mit den Hungerstreikenden bereit erklären würden! In Kenntnis der Einwände, in Abwägung möglicher Konsequenzen. Wie groß ist denn wirklich die Gefahr von Nachahmern? Wie groß die Gefahr, dass solcherart Nachgiebigkeit propagandistisch ausgeschlachtet würde?
Vielleicht ließe sich der Spieß ja sogar umkehren. Politiker geben sich stark genug, um in einem Einzelfall das Erpressungsverbot ignorieren zu können. Sie demonstrieren Einigkeit, wenn es um die Gesundheit einiger junger Aktivisten geht. Die reine Lehre ist für jene gemacht, die in einer konkreten Situation vom Nachdenken entlastet sein wollen, die Halt und Hilfe brauchen durch eherne Prinzipien. Scholz, Laschet und Baerbock können zeigen, dass manchmal Gnade vor Recht geht.