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Kaperfahrt. Oberpirat Torge Schmidt will ein bedingungsloses Grundeinkommen, das Geld dafür werde schon irgendwoher kommen, sagt er.
© Reuters

Landtagswahl Schleswig-Holstein: Piraten auf Kaperfahrt im hohen Norden

In Schleswig-Holstein bringen die Piraten Unordnung in eine bisher simple Angelegenheit namens: Koalitionsfrage. Der CDU nehmen sie die Machtoptionen, Linken und FDP die Stimmen, der SPD die rot-grüne Hoffnung. Und mit den Grünen richten sie noch Übleres an.

Der Grauhaarige in der ersten Zuschauerreihe bebt vor Zorn. Am liebsten würde er nach vorne auf die Bühne springen und dieses Bürschchen beim Kragen packen. Das Bürschchen, dieser Torge Schmidt, könnte sein Sohn sein mit seinen 23 Jahren! Aber Willi Voigt, Grünen-Mitglied der ersten Stunden, Kreisvorsitzender, Ex-Staatssekretär für Energiefragen, hegt an diesem Abend im Kieler Gewerkschaftshaus ganz und gar keine väterlichen Gefühle. Die Tageszeitung „taz“ hat zur Diskussionsrunde im Landtagswahlkampf eingeladen. „Original oder Fälschung“ ist die Debatte überschrieben. Auf der Bühne sitzen der Spitzenkandidat der Grünen, der Spitzenkandidat der Linken – und das Bürschchen mit dem spärlichen Kinnbart.

Torge Schmidt ist nämlich Spitzenkandidat der Piraten. Vorhin hat ihn die Moderatorin gefragt, wie seine Partei denn ein bedingungsloses Grundeinkommen bezahlen will. „Wir ha’m ja leider ne ziemlich scheiße Haushaltslage“, sagt Schmidt, noch mehr Schulden, das gehe nicht, schon klar, dann müsse das Geld eben irgendwo anders herkommen. „So einfach ist das!“, ruft Voigt aus dem Saal dazwischen. Er will höhnisch wirken, aber er wirkt mehr verzweifelt. Und, ja, beleidigt klingt er auch.

In Schleswig-Holstein sind die politischen Dinge in Unordnung geraten. Am Sonntag wird gewählt. Bis vor kurzem schien das eine simple Angelegenheit zu werden, so übersichtlich wie die flachen Landstriche an der Westküste: Die schwarz-gelbe Koalition wird nicht wieder gewählt wegen bundesweiter freidemokratischer Schwindsucht; dann machen eben Rote, Schwarze und Grüne die nächste Regierung untereinander aus.

Sehen Sie hier Bilder vom Parteitag der Piraten in Neumünster:

Das kennt man hier nicht anders. SPD und CDU wechseln sich immer mal in der Führung ab, weil Schleswig-Holstein zwar ein konservatives Agrarland ist, die meisten Wähler aber in Städten wohnen und im Hamburger Speckgürtel. So unspektakulär schien die Lage, dass dem SPD-Spitzenkandidaten Thorsten Albig neulich auf der Insel Amrum beim Versuch, beim Bäcker ins politische Gespräch zu kommen, ein ehrlich erstauntes „Wie – is’ Wahl?“ entgegenschlug. Auf Amrum hängen keine Wahlplakate, damit die Urlauber nicht erschrecken.

Vor drei Wochen aber verlas ein NDR- Nachrichtensprecher norddeutsch-nüchtern die jüngsten Umfragedaten des Senders: „Die Piratenpartei hat ihre Werte verdoppelt und liegt jetzt bei elf Prozent.“ Der Wert ist seither etwas gesunken, zuletzt auf neun Prozent. Aber das ändert nichts daran, dass seit jenem Samstag die alten Gleichungen der politischen Mathematik nicht mehr aufgehen. Das Land zwischen den Meeren ist zum Musterfall dafür geworden, was geschieht, wenn die Freibeuter kommen.

Angela Merkel nennt den CDU-Spitzenkandidaten einen "typischen Ja-Sager"

Die Spitzenkandidaten zur Landtagswahl in Schleswig-Holstein: Torsten Albig (SPD, rechts) und Jost de Jager (CDU, links).
Die Spitzenkandidaten zur Landtagswahl in Schleswig-Holstein: Torsten Albig (SPD, rechts) und Jost de Jager (CDU, links).
© dapd

Sehen kann man davon auf den ersten Blick wenig. Es gibt Piraten-Plakate mit dem Slogan „Trau’ keinem Plakat“, im Internet ist ein flott gemachtes Werbevideo anzuschauen („Jetzt mit mehr Inhalt“), aber sonst ist die neue Kraft unsichtbar. Also, fast. Auf dem Marktplatz von Heide hat die CDU eine kleine Ecke abgezäunt und eine Tribüne davor aufgebaut. Heide rühmt sich des größten Marktplatzes in Deutschland, weshalb die CDU in ihrer Ecke mickeriger wirkt, als sie ist. Dithmarschen an der Westküste ist Christdemokraten-Hochburg. Das wird so bleiben, weil die Dithmarscher selbst unter den Sturköpfen des Nordens als besonders hartschädeliger Menschenschlag gelten. Ihre Vorfahren pflegten die von Landesherren ausgesandten Panzerreiter in mutwillig geflutetem Marschland zu ersäufen.

Jost de Jager ist also unter Freunden, eigentlich. Der Wirtschaftsminister ist der Spitzenkandidat der CDU. Dazu kam er eher zufällig. Der anfänglich als Nachfolger von Ministerpräsident Peter Harry Carstensen bestimmte Christian von Boetticher war über seine Beziehung zu einer 16-Jährigen gestürzt. De Jager galt danach als ungefähr der Einzige, der an diesem Sturz nicht in irgendwelchen Hinterzimmern mit herumgefingert hatte.

So steht nun der 47-Jährige in Heide auf der Tribüne. Er hat zur Verstärkung die Bundeskanzlerin mitgebracht. Unten wartet ein zumeist älteres Publikum auf die Ansage von oben. Außerhalb der Gitter, die sie wegen der Kanzlerin um die Sitzbankreihen gezogen haben, hat sich die dithmarscher Version des Wutbürgers aufgebaut, reckt ein Sperrholz-Windrad in die Luft und fordert „Stopp!“ der Windkraft. Ganz normal also, wäre da nicht die einsame Fahne, die ein Stück hinter den Wutbürgern im Nordseewind flattert: schwarzes Segel auf weiß-orange-farbigem Grund.

De Jager ignoriert sie. Der CDU-Mann wettert gegen den üblichen politischen Gegner, die SPD, die Grünen, die Dänen-Partei Südschleswigscher Wählerverband, die allesamt für das „Zurück in den Schuldenstaat“ stünden. Angela Merkel wird ihren Kandidaten anschließend als „typischen Jasager“ loben, was aber nicht böse gemeint ist, sondern ihn vorteilhaft gegen all die anderen abheben soll, die bloß meckerten und Nein sagten.

Die Piratenfahne ist in der Zeit ein Stück weitergewandert. Sie weht nun hinter der Tribüne. In Merkels Nacken, sozusagen. Auch die CDU-Chefin geht auf die Freibeuter in ihrer Rede nicht ein. Aber Merkel kann an ihrem Kieler Kandidaten nur zu genau studieren, wie rasch politische Bündnisträume versinken.

Noch zur Jahreswende in der Klausur des CDU-Bundesvorstands in Kiel war de Jager frohgemut: Die CDU könne es schaffen, vor der SPD zu liegen – und das heiße dann große Koalition oder Schwarz-Grün. Mit dem Grünen-Spitzenmann Robert Habeck hat der freundliche Pragmatiker de Jager kein Problem, umgekehrt auch nicht. Dass die Grünen ihren eigenen Kandidaten zwischenzeitlich zu einem rot-grünen Bekenntnis gezwungen haben – wobei Druck aus Berlin keine kleine Rolle spielte, weil gewisse Bundesgrüne nichts mehr fürchten als gewisse Signale vor der Bundestagswahl –, dieses Bekenntnis also war unschön, aber kein unüberwindliches Hindernis.

Der Piratenboom ist es. Der CDU-Kandidat kann jetzt rechnen, wie er will – mit um die 30 Prozent bleibt ihm keine Partnerwahl mehr. Jost de Jager bleibt allenfalls noch Torsten Albig.

Mit den Grünen richten die Piraten besonders Übles an

Robert Habeck, Frontmann der Grünen.
Robert Habeck, Frontmann der Grünen.
© dpa

Neumünster liegt geografisch etwa in der Mitte Schleswig-Holsteins, was noch das Großartigste ist, das sich über die Kleinstadt sagen lässt. Morgens um halb zehn sitzt der SPD-Spitzenkandidat in einem Nebenzimmer in der Stadthalle und hört zu. Torsten Albig ist Oberbürgermeister in Kiel, ansonsten aber in Berlin bekannter als im Norden, weil er in der Hauptstadt lange Sprecher des Bundesfinanzministeriums war, zuletzt für Peer Steinbrück. Albig hat eine eigene Art gewählt, um seinen Bekanntheitsgrad zu steigern: Kleine Gesprächsrunden statt großer Volksreden, „Lieblingsland-Tour“ nennt er das. Glaubt man den Umfragen, funktioniert die Sache sogar.

Nur die eigene Partei ist mäßig begeistert. Für klassische Sozialdemokraten ist ihr Häuptling einer, der eine Versammlung mit noch längeren Reden langweilen darf als alle anderen. Die Sozialdemokratie im Norden ist sehr klassisch. Albig nicht. Als bei einer Gesprächsrunde in einem Krankenhaus das Licht ausgeht, weil dem ökologisch korrekten Bewegungsmelder im Raum zu wenig los ist, spottet er ins Dunkel: „Is’ wie das SPD-Programm, wir bewegen uns nicht so oft.“ Auf seinem Wahlplakat steht: „Mit mir gewinnt Schleswig-Holstein.“ Das Parteilogo muss man suchen.

An diesem Morgen also ist die Wirtschaft von Neumünster dran. Sie besteht aus einem schweigsamen Dachdeckermeister, einer frisch zugezogenen Arbeitsrechtsanwältin, die versichert, sie habe hier keineswegs nur Hartz-IV-Klienten, sowie dem Edeka, der Bank und der Wohnungswirtschaft. Der Edeka sagt, dass man auch mal kappen müsse, „Knöpfe abschneiden“.

Albig brummelt ein unverbindliches „hmmm“. Der SPD-Kandidat verspricht zu sparen, aber wo, das sagt er nicht. Der Mann mit dem Kahlschädel und der schmalstegigen Brille ist vielleicht unkonventionell, aber nicht verrückt. In einem Wahlkampf, der kein dominantes inhaltliches Thema hat, darf man keine Fehler machen. Albig hat keine Lust, selbst zum dominanten Thema zu werden.

Für ihn läuft „die Aktion“, wie er den Wahlkampf nennt, ja auch so ganz gut. Wenn die SPD als Erste durchs Ziel geht, kann er jedenfalls Ministerpräsident einer großen Koalition werden. Vom zweiten Platz aus wird er, wenn die Wähler nicht ganz verrückte Sachen machen, immer noch Ministerpräsident. Zwar wird es für Rot-Grün kaum reichen. Aber der SSW, Partei der Dänen-Minderheit mit garantierten Parlamentssitzen, könnte den Rest an Stimmen zusteuern.

Oder Wolfgang Kubicki. Der FDP-Spitzenkandidat hängt sogar in Neumünster an jedem dritten Laternenpfahl. Das Bild zeigt den ewigen Parteirebellen als Geschäftsmann auf eine Stuhllehne gestützt unter dem frech-lakonischen Slogan „Wählen Sie doch, was Sie wollen“. Zwingend nötig wäre die Plakatflut wahrscheinlich nicht, Kubicki ist im Lande bekannt wie ein bunter Hund. Wenn einer die FDP doch noch mal über fünf Prozent hievt, sagen alle, dann Kubicki. Und wenn einer Lust darauf hätte, seiner eigenen Bundespartei die sozialliberale Harke zu zeigen, dann auch Kubicki. Wenn – ja, wenn nicht die Kaperfahrer auch ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Der FDP-Kapitän empfiehlt eine schwarz-grün-gelbe Jamaika-Koalition und hofft, das tauge als Mittel gegen die Piratenattacke.

Bei ihren letzten erfolgreichen Wahlen hat die FDP viel Protestpotenzial auf sich gezogen. Aber der Protest zieht gerade weiter. Warum, ist nicht so richtig klar, deshalb stellt die Moderatorin im Kieler Gewerkschaftshaus die Frage an ihre Podiumsgäste: Was sie glaubten, was die Piraten so attraktiv mache? „Tja, müssen Sie den Schwarm fragen“, ulkt Ulrich Schippels. Der Scherz erspart ihm, über den Ernst seiner Lage zu reden. Bei zwei Prozent sehen die Demoskopen seine Linkspartei, die Wähler von einst rudern in Scharen rüber. Schippels wirkt nicht mal übermäßig niedergeschlagen. Als West-Linker muss man gegen politischen Liebesentzug immun sein.

Robert Habeck ist so weit noch nicht. „Wir stehen jedenfalls für Inhalte!“, insistiert der Grünen-Spitzenmann. „Alles muss durchgerechnet sein, sonst ist es interessant, aber nicht politisch.“ Wie viele Lehrer, zum Beispiel, die Piraten denn zusätzlich wollten? Torge Schmidt weiß es nicht. „Mehr pro Klasse“ eben, das steht so im Wahlprogramm. „Mehr pro Klasse“, ereifert sich Habeck, „das ist doch so wie ... Abschaltung der Atomkraftwerke, aber wie’s weitergehen soll ...“

Er bringt den Satz nicht zu Ende. Muss er auch nicht, die Sache ist eh klar. Der CDU nehmen die Piraten die Machtoptionen, der Linken die Stimmen und der FDP vielleicht auch, der SPD die rot-grüne Hoffnung. Mit den Grünen aber richten sie Übleres an. Die sehen auf einmal so alt aus.

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