Von Boetticher tritt zurück: Der Lolita-Komplex: Ist Sex mit Minderjährigen verwerflich?
Die Beziehung zu einer Jugendlichen hat Christian von Boetticher, Ex-CDU-Spitzenkandidat in Schleswig-Holstein, seine Ämter gekostet. Politisch ist der Fall klar, moralisch jedoch nicht so einfach zu bewerten.
Ein 40-Jähriger hat eine Affäre mit einer 16-Jährigen, er sagt, es war Liebe. Christian von Boetticher weinte, als er am Sonntag ankündigte, dass er wegen der früheren Affäre auf CDU-Parteivorsitz und Ministerpräsidenten-Kandidatur verzichten werde. Wegen der „moralischen Komponente“, die er falsch eingeschätzt habe.
Die politische Komponente ist klar: Nach einer solchen Facebook-Bekanntschaft lässt sich kaum eine glaubwürdige Karriere als wertkonservativer Landesvater antreten. Mit der moralischen Komponente ist es nicht so einfach. Man denkt an Roman Polanski, der 2009 in der Schweiz erneut verhaftet wurde, weil er 1977 in den USA Sex mit einer 13-Jährigen hatte. Man denkt an Michael Jacksons (mutmaßlich harmlose) Spielchen mit Kindern in seiner Ranch Neverland. An Vladimir Nabokovs Roman „Lolita“, in dem der ältliche Humbert Humbert einer 12-Jährigen verfallen ist. An Woody Allen, der 1997 Soon-Yi Previn heiratete, die Adoptivtochter seiner früheren Lebensgefährtin Mia Farrow. Und an Dustin Hoffman als Liebesschüler von Anne Bancroft in „Die Reifeprüfung“: Eine verheiratete Dame lehrt einen blutjungen College-Absolventen den Spaß am Sex – die Umkehrung der Geschlechterrollen ist selten genug.
Man denkt also vor allem an die Liebesgeschichten von Männern mit Mädchen, mit Pubertierenden, mit Minderjährigen – und empfindet ein doppeltes Unbehagen. Nach dem Gesetz ist solche Liebe zwar nicht strafbar: Boettichers Freundin war älter als 14, es gab kein Ausbildungs- oder Abhängigkeitsverhältnis und es handelte sich nicht um Prostitution. Aber es fällt bei so einem Altersunterschied schwer, an eine ebenbürtige Beziehung zu glauben, an die Freiheit der Wahl von beiden Seiten, daran, dass auch nicht im geringsten Zwang, Vorteilsnahme oder Missbrauch im Spiel waren. Einerseits.
Gleichzeitig gilt – und auch das löst Unbehagen aus: Kaum eine Beziehung ist restlos ebenbürtig, und die Liebe ist noch im hohen Alter oft eher eine unreife als eine reife Angelegenheit. Eine 15- oder 16-Jährige ist außerdem kein Kind mehr. Warum soll sie nicht mit einem 40-Jährigen glücklich sein – und sei es für eine kurze Zeit? Liebe ist voller unmoralischer Komponenten: eine Verrücktheit, ein Wahnsinn.
Sex hat mit Vernunft erst recht wenig zu tun, er enthält nicht nur Momente der Zärtlichkeit, sondern auch der Gewalt, bei Gleichaltrigen wie bei Partnern mit großem Altersunterschied. Ja, es gibt den gesellschaftlich sanktionierten Sexismus, der älteren Männern jüngere Geliebte eher verzeiht (und lüstern „Skandal“ schreit) als den „entsorgten“ älteren Ehefrauen die amour fou mit einem 17-Jährigen. Ja, es gibt die Notwendigkeit von Gesetzen, die die Freiheit der Liebe einschränkt, zum Schutz der Schwächeren, der Zöglinge, die sich im Zweifel nicht wehren können gegen Lehrer oder Internatsleiter, ältere Cousins oder den eigenen Vater. Aber es gibt auch die unvermeidliche Portion Willkür bei solchen Gesetzen: Manche 14-Jährige ist mündiger, erwachsener, sexuell reifer als andere mit 16. Auch wenn das im Einzelfall zur Tragödie führen mag: Es geht nicht anders, der Gesetzgeber muss eine Altersgrenze ziehen. Den Schwächeren zuliebe.
Der Rest ist Fantasie – und Unterscheidungsvermögen. Samantha Geimer, Polanskis Opfer, ist eine reale Person, als 13-Jährige genoss sie den Schutz der amerikanischen Justiz. Lolita ist eine Romanfigur: Für sie und ihren Humbert Humbert gelten nur die Gesetze der Literatur. Die empörte Öffentlichkeit, die Nabokovs Buch auf den Index setzte, mochte sich nicht eingestehen, wie viele Männer von Lolitas träumen, wie schmal der Grat zwischen inspirierender Muse und kriminellem Missbrauch bemessen ist. Das Wissen um diesen prekären Grat führt oft zu Prüderie und Bigotterie. Aber eine Gesellschaft, der gleichermaßen an individueller Freiheit wie am Schutzraum der Kindheit gelegen ist, muss diese Nähe aushalten können, muss zum Beispiel die Freiheit der Kunst verteidigen – und gleichzeitig auf die Einhaltung der Gesetze zum Schutz Minderjähriger achten.
Am kompliziertesten ist der Fall Woody Allen. Soon-Yi Previn war 21, als er sie heiratete, aber er hatte bereits fünf Jahre vorher Aktfotos von ihr gemacht. Das Sorgerecht für Soon-Yi besaß er nie, aber es war wohl trotzdem ein VaterTochter-Verhältnis. Mia Farrow führte einen juristischen Krieg gegen ihn, bis ihm das Sorgerecht für die jüngeren Adoptivsöhne entzogen wurde. Es fehle ihm an väterlicher Eignung, befand das Gericht. Soon-Yi Previn und Woody Allen adoptierten ihrerseits zwei Kinder. Wer will darüber richten.
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