Rechtsradikalismus: Pegida hat mit den Flüchtlingen nur bedingt zu tun
Pegida ist kein legitimes Sammelbecken der politisch Unzufriedenen, sondern die Vorhut eines Rechtsradikalismus, der schon jetzt die Grundwerte unserer Verfassung verachtet. Ein Gastkommentar
Nun sollen sie also aufgehängt werden: Angela Merkel und Sigmar Gabriel. Jedenfalls wurde auf der letzten Pegida-Demonstration in Dresden schon einmal ein Galgen mitgeführt. Offensichtlich hat das niemanden gestört – weder die Männer und Frauen, die den selbst ernannten Volksvertretern Lutz Bachmann und Tatjana Festerling hinterherlaufen noch die Polizei. So weit ist es nach einem Jahr montäglicher Aufladestation für Hetze und Hass gekommen. Da werden nicht nur wöchentlich Flüchtlingsunterkünfte in Brand gesetzt, da organisiert sich nicht nur in vielen Ortschaften "Heimatschutz", nun wird zur Ermordung der Bundeskanzlerin und des Wirtschaftsministers aufgerufen.
Inzwischen fühlt sich das rechte Netzwerk von NPD bis AfD in manchen Regionen Sachsens so sicher, dass nicht nur Grundregeln des Anstands, sondern auch die Grundwerte des gesellschaftlichen Zusammenlebens einfach beiseite geschoben werden – und das Leben geht weiter, als wäre nichts geschehen. Aber wen kann das noch verwundern, wenn inzwischen hingenommen wird, dass Fensterscheiben im Chemnitzer Dietrich-Bonhoeffer-Gemeindezentrum eingeworfen werden, weil dort syrischen Familien Schutz gewährt wurde? Und wer ist für die Tat verantwortlich – besorgte Bürger, die angeblich nicht mehr wissen, wohin mit ihren Ängsten, oder doch "nur" Menschen, die sich von neuem der Naziideologie verschrieben haben und vor nichts zurückschrecken?
Aber wissen wir nicht aus der Geschichte, dass es genau diese Mischung ist, die sich – ihres ach so anständigen Deutschtums brüstend – von Menschlichkeit, Demokratie und Freiheit verabschiedet und Unrecht zum Recht, Ausländerhass zum Volkswohl und Menschenfeindschaft zur nationalen Ehre erklärt? Was ist davon zu halten, dass Pegida-Anhänger in Chemnitz-Einsiedel – dem Beispiel Übigau bei Dresden folgend – den Zugang zu einer geplanten Asylunterkunft mit Autos und Traktoren versperren, um die "Invasoren" (so der Pegida-Jargon für Flüchtlinge) zu stoppen – und niemand greift ein, geschweige denn, dass örtliche Politiker/innen oder andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sich klar positionieren? Ist dieser ehrenwerten Gesellschaft bewusst, dass sie sich gerade so auf die Seite des rechten Mobs schlägt? Denn die Grenze zum Rechtsradikalismus beginnt nicht drei Zentimeter vor der NPD – sie verläuft dort, wo diejenigen, die es könnten und müssten, nicht aufschreien, sondern gewähren lassen, sich wegducken. Und weiter hinter dicken Gardinen stehen.
Was wir mit Schrecken in vielen Ortschaften Sachsens (und andernorts) erkennen können: Wie er funktioniert, der ganz alltägliche Faschismus. Er wirkt deswegen so alltäglich, weil die meisten der Hunderte, die mitmachen in Meißen, Chemnitz, Dresden, Freital keine Nazis sind – genauso wie in der Nazi-Zeit von 80 Millionen Deutschen nur die allerwenigsten überzeugte Nazis waren, und dennoch hat der faschistische Terror bis zum bitteren Ende funktioniert.
Der Rechtsradikalismus entlädt sich in seiner ganzen Bandbreite
Was wir daran noch erkennen können? Mit den Flüchtlingen hat das rechte Aufbegehren nur bedingt zu tun. Es bedurfte nur eines Anlasses, damit sich das, was sich seit 25 Jahren in allzu vielen Regionen Sachsens an Rechtsradikalismus aufgebaut hat, in seiner ganzen Bandbreite entladen kann. Pegida ist das vor einem Jahr vom rechten Netzwerk geschaffene Dach, unter dem sich neben den Möchtegern-Politiker aus dem Türstehermilieu NPD-Größen bis hin zu den ach so bürgerlich-intellektuell daherkommenden Frauke Petry und Alexander Gauland von der AfD und ihre Mitläufer aus der sächsischen CDU (und leider auch aus anderen Parteien) versammeln und inzwischen auch vor nichts zurückschrecken.
Nun gibt es Gott sei Dank auch in Sachsen eine positive Erfahrung: Dort, wo eine Stadtgesellschaft zusammen und für die Grundwerte unserer Verfassung einsteht, dort, wo vom (Ober)Bürgermeister angefangen über die (Hoch)Schulleitungen, Kirchgemeinden, Gewerkschaften, Parteien, Vereine und Verbände Fremdenfeindlichkeit und Rassismus entgegengetreten und Pluralismus, Demokratie, eine menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen und das multireligiöse und multikulturelle Zusammenleben bejaht werden, kommt es auch zu rechten Aufmärschen – aber die Wiedergänger des Faschismus finden in der Bevölkerung keine Basis.
Daraus kann es nur eine Konsequenz geben: Statt Pegida weiter mit der Aura zu umgeben, als sei diese Kampftruppe ein legitimes Sammelbecken der politisch Unzufriedenen, sollten gerade im Blick auf den kommenden Montag eines unter denen, die in unserer Gesellschaft Führungspositionen einnehmen, unstrittig sein: Pegida ist die Vorhut eines Rechtsradikalismus, der jetzt schon die Grundwerte unserer Verfassung verachtet und mit Füßen tritt. Wer mit Pegida läuft, muss wissen: er/sie ist mitverantwortlich für alles, was Flüchtlingen und ihren Unterstützern an Gewalt angetan wird. Insofern hatte Angela Merkel schon zum Jahreswechsel 2014/15 das Richtige ausgesprochen, als sie die Bürgerinnen und Bürger aufrief: "Folgen Sie denen nicht, die dazu aufrufen! Denn zu oft sind Vorurteile, ist Kälte, ja, sogar Hass in deren Herzen!" Merkwürdig nur, dass schon damals dieselben Merkel kritisierten, die sie heute wegen ihrer klaren Haltung in der Flüchtlingsfrage geißeln und die meinen, den Pegida-Einpeitschern nachgeben zu müssen. Und da lauert er wieder: der ganz alltägliche Faschismus.
Wann endlich bezieht die Kirche klar Stellung gegen Pegida?
Eine historische Reminiszenz: Am kommenden Montag, 19. Oktober 2015, jährt sich zum 70. Mal die Verabschiedung des "Stuttgarter Schuldbekenntnis". Damals bekannten sich führende Persönlichkeiten der Evangelischen Kirche in Deutschland - darunter Hugo Hahn, Gustav Heinemann, Martin Niemöller - zur Schuld und Verantwortung Deutschlands an Krieg und Terror in Europa während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft 1933-1945. Es ist beklemmend, dass am kommenden Montag wahrscheinlich mehr von Pegida die Rede sein wird, als von diesem entscheidenden Wort der evangelischen Kirche.
Damals ebnete es den Weg für die Rückkehr Deutschlands in die ökumenische Gemeinschaft der weltweiten Christenheit, aber auch in die Völkergemeinschaft. An diesem Gedenktag stellt sich für mich vor allem die Frage: Wie verhält sich Kirche heute zu den Wiedergängern des Faschismus? Reiht sie sich ein in die Gruppe derer, die zu Pegida eine erkennbar klare Trennlinie ziehen? Wo bleibt wahrnehmbare Positionierung der sächsischen Landeskirche gegen die rechtsradikalen Umtriebe eines "Heimatschutz" in Meißen – Sitz des Domkapitels und der Akademie der Landeskirche? Wann endlich tritt der sächsische Landesbischof öffentlich in Dresden oder Meißen oder Freital kraft seines Amtes denen entgegen, die mit einer christlich verbrämten Attitüde den Pegida-Hetzern hinterherlaufen und damit alles besudeln, was uns Christen heilig ist? Wann endlich rufen die Kirchen an einem Montag vor der Dresdner Frauenkirche zu einem Open-air-Friedensgebet auf und vereinen dort die Stadtgesellschaft um die Werte des Glaubens, die von Pegida mit Füßen getreten werden? Es sollte doch nicht erst wieder so weit kommen, dass in ein paar Jahren ein Schuldbekenntnis gesprochen werden muss angesichts des Versagens der Kirchen in einer historisch entscheidenden Situation.
Christian Wolff war von 1992 bis 2014 Pfarrer an der Thomaskirche Leipzig, seit 1998 1. Pfarrer und Pfarramtsleiter. Der Artikel wurde als erstes auf Christian Wolffs Blog veröffentlicht. Wir publizieren den Text hier erneut mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Christian Wolff