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Auch in der Rede in Hannover kommt Steinbrück an einen Punkt, wo manchem im Saal der Atem stockt.
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Offizieller SPD-Kanzlerkandidat: Peer Steinbrück: Der verwandelte Kandidat

Steinbrück und die SPD – das war immer ein schwieriges Verhältnis. Doch jetzt bei der Kandidatenkür in Hannover zieht er alle Register. Und seine Zuhörer sind begeistert. Der Sozialdemokrat der Vernunft präsentiert sich auf einmal als Herzenssozialdemokrat.

Es ist kurz nach eins im Saal 7, als sich ein alter Mann eine Zigarette anzündet und damit den Saal zum Toben bringt. Droben auf dem Podium redet sich Peer Steinbrück langsam warm. Es werde vielleicht die wichtigste Rede seiner Laufbahn, hat er am Abend zuvor gesagt.

In der ersten Reihe der Parteitagshalle sitzt Helmut Schmidt, vor sich auf dem Tisch einen Aschenbecher. Über die schlohweißen Haaren hat er einen Kopfhörer für den Verstärker gestülpt, das Gehör eben. Von Vertrauen und Haltung redet Steinbrück gerade und macht den bald 94-jährigen Ex-Kanzler zu seinem Kronzeugen. Bekanntlich hatte Schmidt seinen Favoriten seiner Partei schon im vorigen Jahren als Kanzler empfohlen („Er kann es.“), aber darum geht es jetzt nicht. Schmidt werde verehrt, weil die Bürger spürten, dass „da jemand führt auf der Grundlage sittlicher Überzeugungen“, ruft Steinbrück und fügt hinzu: „Und deshalb darf er im Fernsehen auch rauchen.“

In diesem Moment schwenkt die Parteitagsregie die Kamera auf die erste Reihe, wo Schmidt neben seiner Lebensgefährtin Ruth Loah sitzt, neben Gerhard Schröder, Franz Müntefering und Egon Bahr, den Garanten jener großen Parteitradition, in die sich der Bewerber um das Amt des Kanzlerkandidaten einreihen wird. Als Schmidt dann tatsächlich eine Zigarette aus der Packung fummelt, ist der Jubel perfekt und Steinbrück hat wieder einen Punkt gemacht. Einen von vielen an diesem Tag.

Draußen tobt der kalte Wintersturm über Hannover, drinnen heizt sich die Stimmung auf. 110 Minuten braucht Steinbrück, um vom Ich zum Wir zu kommen, sich vom Vernunftsozialdemokraten zum Herzenssozialdemokraten zu entwickeln. Er amüsiert seine Zuhörer, er verblüfft seine Zuhörer, er erfreut seine Zuhörer, aber er überzieht nicht.

Nachher wird Ralf Stegner, der Parteilinke aus Schleswig-Holstein loben: „Es war eine sehr sozialdemokratische Rede.“ Vor einem Jahr, als Steinbrück auf dem Parteitag in Berlin redete, setzte Stegner noch ein anderes Signal. Als damals die Parteiführung aufstand und klatschte, blieb er auf seinem Platz sitzen und verschränkte die Arme.

Diesmal klatschen alle, zehn Minuten lang, Immer wieder muss der Kandidat in spe ans Pult, mit und ohne Stephan Weil, dem SPD-Spitzenkandidaten für Niedersachsen, wo schon Ende Januar gewählt wird. Zum Schluss entlädt sich die Spannung des Politikers Steinbrück in einer bemerkenswerten Geste: Als er noch mal ans Pult eilt, ballt er die Faust und schlägt sie in die Luft, wie das Fußballer nach einem Traumtor tun.

Dass ausgerechnet Peer Steinbrück einmal die Sozialdemokraten hinter sich sammeln würde, das hätte vor einem Jahr nicht nur Ralf Stegner verblüfft. Zu groß war die Distanz des gebürtigen Hamburgers gegenüber seiner Partei, zu groß auch seine Arroganz, zu weit entfernt seine politischen Ziele vom Mainstream der Sozialdemokraten. Und dann war da auch noch die Sache mit den Honoraren, die ihm den Start vermasselte und verhinderte, dass Steinbrück mit politischen Argumenten punkten konnte.

Die Leitmotive: „Haltung und Werte“. Und das weitgehend ohne Pathos

Das tut er jetzt in Hannover um so kräftiger. Doch zunächst packt er die Zuhörer bei ihrem Stolz auf die Geschichte der eigenen Partei, die im kommenden Jahr 150 Jahre alt wird. Er weiß um seine Wirkung, wenn er die Rede von Otto Wels vom März 1933 gegen das Ermächtigungsgesetz zitiert, den Satz vorliest, von dem er sagt, er lasse dem Zuhörer immer wieder den Atem stocken: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“

Steinbrück sucht die Bindung an diese Tradition, vom Kampf gegen Bismarck bis über den Widerstand gegen die Nazis hin zu Willy Brandt. Auch Gerhard Schröder lässt er nicht weg und erntet mit dem Hinweis auf dessen Reformen Applaus.

„Haltung und Werte“ – das ist das Leitmotiv der Rede. Das Pathos klappert nicht, denn bald hat Steinbrück seine Form gefunden, verbindet politisches Kabarett mit historischem Atem, Schmeicheleien mit Mahnungen. Erst einmal geht es gegen die Regierung Merkel. Große Versprechungen wie „Jahr der Entscheidungen“ oder „Herbst des Vertrauens“ setze die schwarz-gelbe Koalition in die Welt: „Aber diese Etiketten kleben auf leeren Flaschen.“ Und erntet noch mehr Lacher, als er ironisch hinzufügt: „Auf leeren Flaschen, das meine ich ausdrücklich nicht persönlich.“

So oft und heftig klatschen die Genossen, dass man bald das Gefühl gewinnt, ihre Hände müssten allmählich schmerzen. Aber die Zuhörer sind einfach begeistert davon, dass Steinbrück die Parteiwerte verbindet mit konkreten Ankündigungen, von denen manche Überraschungen sind, so etwa das Versprechen, im Erfolgsfall im Kanzleramt eine Staatsministerin zu berufen, die für die Gleichstellung von Frauen und Männern zuständig ist. Oder einen „Nationalen Aktionsplan Wohnen und Stadtentwicklung“ aufzulegen, in dem Bund, Länder und Kommunen sich um bezahlbaren Wohnraum kümmern. Was solche Versprechen ihn als Kanzler kosten würden – darüber macht er allerdings keine Worte.

Der Mann, der sich seit seinem Abschied vom Finanzministerium auch um sein eigenes Einkommen kümmerte und stets gerne „ich“ gesagt hat, findet nun rhetorische Mittel, sich als Mitglied der Gemeinschaft der Sozialdemokraten unterzuordnen. Nicht „Ich will nicht länger hinnehmen“, sagt er etwa, sondern: „Ich will mit euch nicht länger hinnehmen, dass man Schulen daran erkennt, dass sie die verkommensten Gebäude der ganzen Stadt sind.“ Ein Bekenntnis legt er ab: „Ja, ich bin stolz, ein deutscher Sozialdemokrat zu sein.“

Sogar den Parteichef bringt er dazu, Emotionen zu zeigen. Als sich Steinbrück bei Sigmar Gabriel dafür bedankt, wie der die Partei nach der Niederlage von 2009 wieder aufgerichtet habe, schwenkt die Kamera zu Gabriel, dem die Tränen in die Augen steigen.

Nachdem seine Zuhörer schon eineinhalb Stunden geklatscht, gelacht und gestaunt haben, hat Steinbrück noch eine Zumutung auf Lager. Jeder wisse, dass eine Rede in drei Teile gegliedert werden müsse, nämlich kurze Einleitung, tragender Hauptteil und fulminanter Schluss, sagt er und fügt hinzu: „Ich komme nunmehr zum Hauptteil.“ Aber das ist so durchsichtig, dass die Zuhörer die Provokation spüren, johlen – natürlich kommt der Redner nun zum Schluss.

Kann er „seinen inneren Schweinehund im Griff halten“?

Sehr persönlich wird er da, erzählt von seinem Weg als Sozialdemokrat in die SPD als einer, der nicht von unten kommt. Der wisse, dass er in den Augen vieler Menschen „ein wohlhabender Sozialdemokrat“ sei. Und er gesteht: „Meine Vortragshonorare waren Wackersteine, die ich in meinem Gepäck habe und leider auch euch auf die Schultern gelegt habe.“ Und er dankt den Sozialdemokraten im Saal, „dass ihr mit mir diese Last getragen und ertragen habt“.

Ob Steinbrück wirklich, „seinen inneren Schweinehund im Griff halten kann“, wie das einer aus dem Parteivorstand nennt? Jener Peer Steinbrück, der ungeschützt und drastisch seine Meinung sagt, den fürchten sie auch ein bisschen. Der Sätze sagt wie „Eine Flasche Pinot Grigio unter fünf Euro würde ich nicht kaufen“. Oder vor Schülern nebenbei das meistgekaufte deutsche Auto, den VW Golf, zur unzumutbaren Holzklasse erklärt. Seine Dienstlimousine sei „keine Bonzenschleuder“, sondern ein „rollendes Büro“, weil er viel unterwegs sei: „Da habe ich keinen Bock, auf einer Holzbank zu sitzen.“

Vielleicht ist es aber auch so, dass solche klaren Bekenntnisse durchaus zu dem Bild passen, das die meisten Deutschen von Peer Steinbrück haben. Dass sie respektieren, dass er sich Freiheiten herausnimmt. Als Linienrichter strengster politischer Ethik, die ihm dann selber zum Verhängnis werden könnte, hat er sich bislang jedenfalls nicht beworben.

Auch in der Rede in Hannover kommt Steinbrück an einen Punkt, wo manchem im Saal der Atem stockt. Dutzende von Bekenntnissen zu SPD-Werten und SPD-Beschlüssen hat er abgegeben, als er von seiner Zeit bei der Bundeswehr erzählt und sagt, weil er erst dort andere soziale Milieus kennengelernt habe, sei er ein Anhänger der Wehrpflicht. Steinbrück merkt, dass seine Zuhörer verstört sind, redet schnell weiter, während der Saal froh ist, dass der Moment vorübergeht. An diesem Tag wollen die Sozialdemokraten nicht die Schwächen von Steinbrück spüren, sondern seine Stärken.

Am Abend zuvor, beim Empfang der Partei für die Medien, hat Steinbrück den Parteitag mit einer Manege verglichen. Der Dompteur werde Parteichef Sigmar Gabriel sein, sagte er und fügte hinzu: „Der Trapezkünstler bin ich vielleicht.“

Aber er ist nicht aufs Trapez geklettert in Hannover, er hat keine Salti mit verbundenen Augen geschlagen. In einer Hinsicht stimmt das Bild womöglich trotzdem. Wie ein Trapezkünstler ohne Netz setzt Steinbrück nun alles auf die Niedersachsen-Wahl am 20. Januar. Ein rot-grüner Sieg werde die „politische Mechanik“ in der ganzen Republik verändern. Nicht alle in der Parteiführung sind glücklich mit dieser Aufladung. Es kann auch schiefgehen. Dann, so sagt einer aus dem Vorstand voraus, werde niemand mehr der SPD im Herbst einen Sieg zutrauen. Seit Wochen sind die Umfragen in Niedersachsen stabil für Rot-Grün. Aber daraus muss erst einmal Realität werden.

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