Begrenzt handlungsfähig: Parlament ringt um Mitbestimmung
Das Verfassungsgericht setzt einen Teil des Euro-Rettungsgesetzes außer Kraft – dem ursprünglich bis auf die Linke alle Fraktionen zugestimmt haben.
Berlin - Den parlamentarischen Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag kennt man als ruhigen Mann strukturierter Sätze. Peter Altmaier (CDU) wiederholt sich selten. Weshalb es umso mehr auffiel, als Altmaier am Freitagmorgen etwas hibbelig vor die Kameras trat, die im dritten Stock des Bundestages schon auf ihn warteten, und nicht weniger als dreimal diesen einen Satz wiederholte: „Der Bundestag wird dafür sorgen, dass die Handlungsfähigkeit Deutschlands sichergestellt ist.“ Sollte irgendwer Zweifel daran haben?
Genau diese Frage hatte sich mit Macht ins Bewusstsein der deutschen Parlamentarier gedrängt, als in ihren Büros Donnerstagnacht gegen ein Uhr die Faxgeräte ansprangen und einen 18-seitigen Brief der Verfassungsrichter aus Karlsruhe ausspuckten. Darin untersagten die Richter dem Parlament, „bis zur Feststellung in der Hauptsache“ nicht mehr von Paragraf drei Absatz drei des Stabilisierungsmechanismusgesetzes (StabMechGesetz) Gebrauch zu machen. Zu Deutsch: Das wenige Stunden zuvor gewählte Neun- Personen-Gremium, das in wichtigen und eiligen Fällen im Namen des Bundestages über Hilfen des Euro-Rettungsschirmes EFSF entscheiden soll, darf seine Arbeit nicht antreten.
Das könnte mit einer perfekten Blamage für den Bundestag enden: Wenn der EFSF in den nächsten Wochen zum Beispiel Italiens Zahlungsfähigkeit durch den Aufkauf von Staatsanleihen sichern will – worüber normalerweise sehr schnell und vor allem sehr geheim entschieden werden muss – dann muss ganz Europa warten, bis der deutsche Bundestag seine 620 Abgeordneten zusammengetrommelt hat. Man konnte Altmaier ansehen, welche Schlagzeilen er für Samstag am meisten befürchtet: „Die Deutschen legen Europa lahm.“ Und das ausgerechnet jetzt, wo sich doch seine Kanzlerin beim Brüsseler Gipfel gerade erst als mutige Retterin der verschuldeten Gemeinschaft hervorgetan hatte. Der politische Schaden könnte kaum größer sein.
Was bisher geschah: Welche Zugeständnisse die Abgeordneten der Regierung abringen konnten - und was sie ihnen jetzt nützen.
Ausgelöst haben ihn zwei SPD-Abgeordnete, einer davon, Peter Danckert, sitzt im Haushaltsausschuss. Er und der Berliner Swen Schulz hatten Karlsruhe angerufen, weil sie ihre Rechte als Abgeordnete beschnitten sehen, über die Euro-Rettungshilfen mitzubestimmen. Wenn weder der Bundestag noch der eigentlich zuständige Haushaltsausschuss über die Milliardenhilfen entscheiden darf, sondern ein Neuner-Gremium, dann „werden wir nicht wie Volksvertreter behandelt“, begründet Danckert seine Klage. Und obwohl bis Donnerstagnacht auch in der SPD-Fraktion kein Mensch ernsthaft daran geglaubt hatte, dass Danckert in Karlsruhe recht bekommt, sahen es auch die Richter in den roten Roben so – und entschieden, das Gremium erst einmal zu stoppen, bevor sie in der Sache (wahrscheinlich bis Weihnachten) entschieden haben.
Um zu verstehen, wie es zu der jetzt vielleicht unwirksamen Regel der Parlamentsbeteiligung gekommen war, muss man noch mal gut vier Wochen zurücksehen. Mitte September stand im Bundestag die Beratung des StabMechGesetzes an, das der Regierung gestatten sollte, den Euro-Rettungsschirm EFSF auf 440 Milliarden Euro zu erweitern. Viel Skepsis in der Opposition, genauso viel in der Koalition. Union und FDP glaubten seinerzeit, wenn sie dem Bundestag in dem Gesetz das Recht gäben, in Zukunft bei jeder Kleinigkeit mitbestimmen zu dürfen, würden die eigenen Leute zumindest beruhigt.
Rasch einigte man sich auf ein dreistufiges Verfahren: In prinzipiellen Fragen muss immer das ganze Plenum, in wichtigen Fragen zumindest der Haushaltsausschuss, in eiligen Dingen das Neuner-Gremium aus Experten im Bundestag entscheiden. Zumindest das Neuner-Gremium könnte aus heutiger Sicht ein Schritt zu viel gewesen sein. Unter anderem, weil die Koalition darin die Mehrheit hat und die Opposition keinerlei Recht, eine Entscheidung, die man für brisant hält, dem Haushaltsausschuss zuzuleiten, damit dort noch ein paar mehr Parlamentarier draufsehen können.
Die SPD hat dem Gesetz am 29. September zugestimmt. Und trotzdem will sie für die Panne vor dem Verfassungsgericht nicht mehr zuständig sein. Schon eine Woche vor der Abstimmung, am 21. September, habe man im Haushaltsausschuss juristische Aufklärung über die Verfassungsmäßigkeit der Regelungen verlangt, heißt es. Und dann auch erhalten, „gegen heftigen Widerstand von Union und FDP“, wie sich einer von der SPD erinnert. Lang und breit habe der Prozessbevollmächtigte des Bundestages, Professor Franz Mayer, schließlich erklärt, welche Bauchschmerzen er mit den Regeln zur Parlamentsbeteiligung habe. Offenbar auch mit dem Neuner-Gremium. „Das geht alles so überhaupt nicht“, soll Mayer gesagt haben. Beschlossen haben es die 620 Bundestagsabgeordneten eine Woche später trotzdem. Kanzlermehrheit der Koalition, SPD und Grüne stimmten zu.
Nun muss ausgerechnet Norbert Lammert (CDU) einen Ausweg finden, damit Deutschland sich nicht blamiert, wenn vor Weihnachten doch noch irgendwo ein Euro-Land eilig gerettet werden muss. Der Parlamentspräsident übrigens, Ironie der Geschichte, hatte die Latte für die Rechte des Bundestages im September besonders hoch gelegt.
Antje Sirleschtov