Tragique!: Paris treibt an, Berlin bremst – zum Schaden für Europa
Da die Nominierung von der Leyens eine Idee von Macron war, belastet der Streit um sie nun auch indirekt das deutsch-französische Verhältnis. Ein Kommentar.
Größer könnte die Differenz zwischen Schein und Sein kaum ausfallen. Am 14. Juli ist Angela Merkel auf Einladung von Emmanuel Macron Ehrengast bei der Parade auf den Champs Élysées. Am französischen Nationalfeiertag dürfte sich das Duo dem Gefühl hingeben, gemeinsam einen großen Erfolg erreicht zu haben. Zwei der fünf bedeutendsten Positionen Europas sollen künftig von Frauen besetzt werden, von einer Deutschen und einer Französin. Ursula von der Leyen kandidiert als Chefin der EU-Kommission, Christine Lagarde ist als Präsidentin der Europäischen Zentralbank nominiert.
Statt Beethovens Ode an die Freude sind aus Brüssel und Straßburg als Reaktion jedoch nur schrille Dissonanzen zu hören. Lagarde hängen die Folgen eines Rechtsstreites um staatliche Schadensersatzzahlungen für den Geschäftsmann Bernard Tapie an. Weit mehr in Bedrängnis ist von der Leyen geraten. Sie muss noch durch das Europäische Parlament gewählt werden. Dass dies am kommenden Dienstag geschieht, ist keineswegs sicher. Die EVP-Fraktion, zu der Leyens CDU gehört, und die der Sozialdemokraten sind von einer Mehrheit weit entfernt. Nicht nur Linke und Grüne sind dagegen – Letztere fanden von der Leyens Vorstellung schwach –, sondern auch die 16 deutschen SPD-Abgeordneten in der gemeinsamen sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament. Deren Obmann, Jens Geier, brachte gar ein polemisches Dossier gegen Leyen in Umlauf.
Darüber sind Italiens, Spaniens und Frankreichs Sozialdemokraten im EP irritiert. Sie haben zwar auch Forderungen an Leyen, sehen ihre Länder bei der Verteilung der Spitzenpositionen indes gut berücksichtigt, das zählt. Wenig Verständnis haben sie dafür, dass SPD-Abgeordnete, unter ihnen Katarina Barley, einen innerdeutschen Parteien- und Koalitionsstreit auf die europäische Bühne ziehen, um sich dort das Profil zu holen, das ihnen in Deutschland verloren gegangen ist.
Berlin bremst
Da die Nominierung Ursula von der Leyens eine Idee von Emmanuel Macron war – der mit dem Doppelpack Leyen-Lagarde die Interessen der beiden gewichtigsten EU-Staaten wahren wollte –, belastet der Streit um Personen nun auch indirekt das deutsch-französische Verhältnis. Da knirscht es zwar längst nicht so wie manchmal behauptet. Aber deutlich wird immer mehr, dass die Franzosen seit der Wahl Macrons zum Präsidenten in einer ungewohnt dynamischen, die Deutschen hingegen schon seit der schwierigen Koalitionsbildung in einer retardierenden Phase der Politik stecken. Wo Paris auf Fortschritte drängt, ob nun in der Klimapolitik oder beim engeren Zusammengehen in der Europäischen Union, bremst Berlin.
Emmanuel Macron hat im Umgang mit seinen eigenen Landsleuten eine gewisse Demut erst lernen müssen. Die Proteste der Gelbwesten machten ihm deutlich, dass man mit einem politischen Gestus des Wir-da-oben-ihr-da-unten bei den aufbegehrenden Franzosen schnell gegen die Wand rennt. Seine Reformbereitschaft aber bringt ihm inzwischen Pluspunkte. Die will er gegen das permanente deutsche Verzögern auf fast allen Gebieten verteidigen. Dass die Bundeskanzlerin mehr als früher Rücksicht auf den konservativen und nationalen Flügel der eigenen Partei und auf die CSU nimmt, erleichtert ihre Position in der Europapolitik nicht. Wenn sich jetzt auch noch der Koalitionspartner SPD unter Berufung auf das Modell der Spitzenkandidaten in der eigenen europäischen Parteienfamilie zu isolieren beginnt, wird Deutschland in der Europapolitik genauso wie im Verhältnis zu Frankreich ein schwer zu berechnender Partner.
In Emmanuel Macron hat Frankreich, nach zwei eher volatilen Staatschefs, einen Präsidenten, der das ausstrahlt, was Deutschland so lange bei seinem westlichen Nachbarn vermisste: Entschlusskraft und Reformfreude. Dass ausgerechnet in dieser Phase die Blockierer östlich des Rheins das Übergewicht bekommen, hat schon fast tragische Züge.