Ermordete Stadträtin: Paramilitärs terrorisieren Brasiliens Favelas
Brasiliens Präsident Bolsonaro gibt bei der Verbrechensbekämpfung gern den harten Hund. Gegenüber den Milizen hält er sich allerdings auffällig zurück.
Für Monica Bonicio ist der Fall klar: Es war ein politischer Mord, der ihre Lebensgefährtin aus dem Leben riss. 13 Jahre waren sie und Marielle Franco ein Paar. Bis an jenem Abend im März vergangenen Jahres. „Sie wurde hingerichtet, in einem politischen Verbrechen, durch einem Mord, der die Welt schockte“, sagt Bonicio. „Und es gibt keine Antworten.“
Franco war ein Shootingstar der brasilianischen Linke. Jung, schwarz, lesbisch - aufgewachsen in einer Favela. Als Stadträtin der linken Partei PSOL engagierte sie sich gegen Gewalt und Korruption in den Elendsvierteln von Rio de Janeiro. Damit brachte sich offenbar die mächtigen Milizen gegen sich auf.
Am späten Abend des 14. März 2018 wird sie in ihrem Auto erschossen. Die Täter feuern 13 Schüsse ab, vier davon sind tödlich. Neben Franco stirbt auch ihr Fahrer Anderson Gomes.
Am Dienstag nahmen Beamte des Morddezernats zwei Verdächtigte fest - beide ehemalige Militärpolizisten. Ronnie Lessa soll die tödlichen Schüsse abgefeuert haben, Élcio Vieira de Queiroz das Tatfahrzeug gesteuert haben. Pikant: Lessa wohnt in einem Gebäudekomplex in Barra da Tijuca im Westen von Rio, in dem auch der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro eine Wohnung hat.
Polizei beschlagnahmt Sturmgewehre und Munition
Bei dem Polizeieinsatz beschlagnahmten die Beamte unter anderem 117 zerlegte Sturmgewehre vom Typ M-16, 500 Schuss Munition und drei Schalldämpfer. Es sei der bislang größte Fund von Gewehren in der Geschichte in Rio gewesen, teilte die Kriminalpolizei mit.
„Das ist natürlich ein wichtiger Schritt und lässt uns hoffen, dass die Ermittlungen auf dem richtigen Weg sind“, sagte Francos Lebensgefährtin Bonicio im Fernsehsender Globo News. „Wichtiger als die Festnahme dieser Söldner ist allerdings eine Antwort auf die Frage, wer den Mord befohlen hat.“
Die Milizen sind ein typisch brasilianisches Phänomen: Die Verbrechersyndikate bestehen aus aktiven und ehemaligen Polizisten, Feuerwehrleuten, städtischen Beamten und sollen in Rio nach Einschätzung von Ermittlern etwa 25 Prozent des Stadtgebiets kontrollieren. Sie sind in Drogenhandel und Schutzgelderpressung verwickelt, entscheiden, wer Strom, Gas und fließendes Wasser bekommt.
Sie handeln mit Immobilien und Konzession, erledigen Auftragsmorde und organisieren Wählerstimmen für Lokalpolitiker. Regisseur José Padilha erzählt in dem Spielfilm „Tropa de Elite 2“ von dem kriminellen Treiben der Milizen und ihren engen Beziehungen zur Politik und zum Sicherheitsapparat.
Bolsonaro gibt sich als Hardliner
Brasiliens neuer Präsident Bolsonaro geriert sich gern als harter Hund. Die Polizei soll entschlossen gegen die Drogenbanden wie Comando Vermelho und Primeiro Comando da Capital in den Favelas vorgehen. Gegen Beamte, die im Einsatz Kriminelle töten, solle nicht ermittelt werden, vielmehr hätten sie einen Orden verdient, sagt er. Gegenüber den Milizen hält er sich hingegen erstaunlich zurück.
In den Ermittlungen zum Mord an Marielle Franco taucht auch immer wieder der Name von Bolsonaros Sohn Flavio auf. In seinem Abgeordnetenbüro waren zeitweise die Ehefrau und die Mutter von Adriano Magalhães da Nóbrega beschäftigt. Der ehemalige Hauptmann der Polizeispezialeinheit Bope soll ebenfalls in den Mord an Franco verwickelt sein und ist derzeit auf der Flucht. „Ich bin Opfer einer diffamierenden Kampagne, die auf die Regierung von Jair Bolsonaro abzielt“, schrieb der Senator in einer Erklärung.
Bolsonaro junior hatte Nóbrega einst für eine Verdienstmedaille vorgeschlagen. Überhaupt hegt der älteste Sohn des Präsidenten gewisse Sympathien für die Milizen. „Eine Miliz ist nichts anderes als eine Gruppe von Polizisten, Militärs und anderen, die von einer gewissen Hierarchie und Disziplin geprägt ist und danach strebt, das Schlimmste aus dem Schoß der Gesellschaft zu tilgen: die Verbrecher“, sagte er einmal in einer Rede.
Paramilitärische Milizen sind längst ein Problem in den Favelas
Dabei sind die Milizen in den Favelas längst selbst zum Problem geworden. „Viele dieser Gruppen wurden zunächst von den Anwohnern unterstützt, weil sie die Drogengangs bekämpften, doch dann wurden sie selbst kriminell und betätigten sich im Drogenhandel, der Schutzgelderpressung und anderen Feldern der organisierten Kriminalität“, heißt es in einer Analyse des Fachportals Insight Crime.
Bonicio will die Erinnerung an ihre getötete Freundin wach halten. Obwohl dieser Kampf auch für sie nicht ungefährlich ist, trägt sie offen T-Shirts mit politischen Botschaften wie „Wer tötete Marielle?“ oder „Kämpft wie Marielle Franco“. Auf den Unterarm hat sie sich das Konterfei von Franco tätowieren lassen.
Aus Sicherheitsgründen lebt Bonicio nun vorübergehend in der Hauptstadt Brasilia. In Rio ist sie dennoch oft. „Wovor soll ich denn noch Angst haben?“, fragt sie bei einem Treffen in Maré, einem Konglomerat aus rund einem Dutzend Favelas. Dort sind zurzeit drei große Drogengangs und die Milizen aktiv.
Brasilien ist eines der gewalttätigsten Länder der Welt
„Es ist ein Kampf um Gerechtigkeit, nicht für Rache“, sagt Bonicio. „Ich möchte, dass - egal wer antwortet - Brasilien und der Welt erklärt wird, wer den Auftrag gab und wer Marielle und Anderson tötete.“ Brasilien ist eines der gewalttätigsten Länder der Welt - über 60 000 Menschen werden dort jedes Jahr getötet. Touristen spüren die Kriminalität vor allem, wenn Jugendgangs in langen Menschenketten über Strände wie die Copacabana in Rio herfallen und alles klauen, was sie in die Finger bekommen.
Im Gegensatz zu den Drogen- und Gefängnisgangs operieren die Milizen an der Schnittstelle von Staat und Unterwelt. „Die haben Verbindungen bis in die Politik“, sagt Sérgio Ramalho, Investigativjournalist für die Plattform The Intercept. Oft sind Mitarbeiter von Stadträten und Abgeordneten in Milizen aktiv. „Ein Jahr nach Marielle Francos Tod ist klar, dass dies ein sorgfältig geplanter Mord war, an dem an gewissen Punkten vermutlich auch staatliche Akteure beteiligt waren“, sagt die Leiterin von Amnesty International in Brasilien, Jurema Werneck.
Bonicio will, dass auch die Hintermänner des Mordes an ihrer Freundin zur Rechenschaft gezogen werden. „Bislang wurde keine politische Figur gefasst, die für irgendetwas verantwortlich sein könnte“, sagt sie. „Brasilien ist ein so komplexes Land, mit einem politischen System, das durchsetzt ist mit Korruption. Wir beginnen gerade erst die vielen Türen zu entdecken, die es in diesem Mord gibt.“ (Andreas Nöthen und Denis Düttmann, dpa)