Das House of Lords und der Brexit: Oberhaus votiert gegen Theresa May
Rückschlag für die britische Premierministerin: Eine Mehrheit im House of Lords fordert die Regierung auf, zügig über die Zukunft von EU-Bürgern auf der Insel nach einem Brexit zu befinden.
"The Peers versus the People“ - die Schlagzeile hat seit über hundert Jahren in Großbritannien immer wieder Konjunktur. Die Peers, das sind die Mitglieder des Oberhauses, und die stehen bisweilen dem Willen des Volkes im Weg. Jedenfalls dem Willen derer, die die Mehrheit im Unterhaus haben. Die Brexit-Hardliner in der Tory-Partei sind seit Wochen sehr aufgeregt, weil das House of Lords auch über das Gesetz zum EU-Austritt berät. „Ich möchte nicht, dass irgendwer aufhält, was das britische Volk möchte“, ermahnte auch Premierministerin Theresa May die andere Kammer (die im House of Commons gemeinhin als "the other place" bezeichnet wird). Zum Auftakt der Beratungen in der vorigen Woche erschien May sogar bei den Lords, ein sehr ungewöhnlicher Vorgang. Stumm saß sie da, auf der Treppe unterhalb des Platzes, der für die Königin reserviert ist. Es war eine nonverbale Drohung der eigenen Art.
Nicht ohne Grund: Die Peers sind in der Mehrheit nicht so antrittswillig wie die konservative Fraktion im Unterhaus. Nur 252 der etwa 800 Lords und Ladies sind Tories, wobei einige, wie der alte Partei-Haudegen Michael Heseltine, die offizielle Parteilinie nicht mitmachen. Mehr als 300 Mitglieder des Oberhauses gehören zu Labour oder den Liberaldemokraten, zählen also zur Opposition, und ein Teil der gut 170 „Crossbencher“, der unabhängigen Bankwechsler, ist auch eher EU-freundlich. Zwar ist nicht zu erwarten, dass das Oberhaus dem Brexit-Gesetz nicht zustimmt, aber es kann Änderungsanträge beschließen.
Deutliche Mehrheit
Am Mittwochabend war es so weit: Eine deutliche Mehrheit des Oberhauses sprach sich dafür aus, dass die Rechte von EU-Bürgern, die in Großbritannien leben (es sind mehr als drei Millionen, viele von ihnen seit Jahren und Jahrzehnten), schon vor Beginn der Austrittsverhandlungen garantiert werden. Und nicht von Mays Regierung quasi als Verhandlungsmasse genutzt werden. 358 Lords und Ladies stimmten dafür, 256 waren dagegen. Es war die nach Stimmen zweitgrößte Abstimmung in der Kammer, seit die Zahlen aufgezeichnet werden. Unter den Befürwortern waren auch sieben Konservative. Es ist die erste Niederlage für May im parlamentarischen Verfahren zum Brexit-Gesetz. Im Unterhaus konnte die Regierung alle Amendments abwehren. Nach dem Beschluss des Oberhauses soll die Regierung binnen drei Monaten nach dem Austrittsantrag darlegen, wie sie die Rechte von EU-Bürgern nach dem Austritt sichern wird. Das bedeutet, dass die EU-Ausländer in Großbritannien nicht zwei Jahre oder länger warten müssten (so lange dürften die Austrittsverhandlungen dauern), bis ihr künftiger Aufenthaltsstatus feststeht. Bisher war Mays Linie, das in den Verhandlungen mit den EU-Staaten zu besprechen – mit der Begründung, entsprechende Zusagen für die Briten auf dem Kontinent zu bekommen. Allerdings warfen ihr Politiker von Labour und den Liberaldemokraten im Oberhaus vor, damit die EU-Ausländer zur Verhandlungsmasse zu machen.
Verfahren verzögert
Das von May eingeräumte Mitbestimmungsrecht des gesamten Parlaments am Ende der Austrittsverhandlungen geht manchen Lords nicht weit genug, auch die eingeschränkte Beteiligung der Regionalparlamente von Schottland, Wales und Nordirland stößt auf Missfallen. Das am Mittwochabend beschlossene Amendment zu den in Großbritannien lebenden EU-Staatlern bedeutet, dass sich nun das Unterhaus nochmals mit dem Gesetz befassen muss. Da die Lords erst kommenden Dienstag über das Gesetz als Ganzes abstimmen, wird sich das Verfahren um mindestens eine Woche verzögern. Bisher wollte May den Austrittsantrag spätestens Ende März stellen. Die Regierungschefin reagierte "not amused", aber entschlossen. Sie setzt darauf, dass das Amendment im Unterhaus nicht in das Gesetz aufgenommen wird. Ihr Sprecher sagte am Donnerstag: "Die Premierministerin hat ihren Willen klar ausgedrückt, dass das Gesetz ohne Ergänzung durchgeht." Das ist ein klares Signal an mögliche Tory-Abweichler, dass sie den Konflikt mit Labour und den Liberaldemokraten fortsetzen will. Stimmt das Unterhaus gegen die Ergänzung, dann geht das Gesetz zurück ins Oberhaus. Die Bevölkerung ist gespalten - gut 40 Prozent sind nach einer aktuellen Umfrage dafür, den Status der EU-Ausländer schon jetzt zu garantieren, ebenfalls gut 40 Prozent meinen, das sei nicht nötig. Klar ist freilich: Die Brexit-Hardliner im Unterhaus dürften angesichts des Oberhaus-Beschlusses bald davon reden, dass die Peers sich mal wieder gegen das Volk gestellt haben – mit dem Verweis, dass keiner von ihnen gewählt sei.
Seit gut hundert Jahren entmachtet
Freilich hat das Oberhaus schon eine Reihe von Debatten über seine Legitimität überstanden, seit der maßvoll populistische liberale Finanzminister (und spätere Premier) David Lloyd George 1909 sein „Volksbudget“ mit einer Reihe sozialer Wohltaten einbrachte und die Lords (damals noch rein männlich und mit stramm konservativer Mehrheit) es zu Fall brachten. Der Wahlkampf von 1910 drehte sich daher um die Macht des Oberhauses, mit dem Ergebnis, dass ein Jahr später die Entmachtung der Peers ins Werk gesetzt wurde – mit deren Zustimmung, denn die Regierung hatte König Georg V. überredet, einfach genügend liberale Bürgerliche zu adeln, um die Tory-Mehrheit im Oberhaus zu kippen. Seither ist das Oberhaus keine vollgültige parlamentarische Kammer mehr: Finanzgesetze kann es gar nicht stoppen, bei allen anderen Vorlagen hat es nur die Macht des aufschiebenden Vetos.
Einige Reformen später – die vorerst letzte stammt von 1999 – ist das Oberhaus heute keine Kammer des erblichen Adels mehr (der darf nur noch 92 Mitglieder stellen, die meist inaktiv sind), sondern wird dominiert von Männern und Frauen, die versehen mit einem Adelstitel ihrer Wahl auf Lebenszeit ernannt werden. Nicht wenige sind ehemalige Unterhausmitglieder, Kabinettsminister oder hohe Beamte. Auch anerkannte Experten aus der Wissenschaft finden sich auf den Vorschlagslisten für neue Mitglieder, aber auch Vertraute oder enge Mitarbeiter von Spitzenpolitikern. Dazu kommen die 26 Bischöfe der anglikanischen Staatskirche. Es ist eine seltsame, eigenwillige und einzigartige Melange. Die meisten Peers sind alt oder sehr alt, das Oberhaus wirkt daher ein bisschen wie eine emsige Senioren-Universität.
Kammer der Erfahrenen
Seine Rechtfertigung zieht das Oberhaus heute vor allem daraus, dass eine genügend hohe Zahl der Mitglieder – keineswegs alle arbeiten mit – sich mit einem beträchtlichen Fundus an Erfahrung in die Details der Gesetzgebung vergräbt und damit leistet, was das Unterhaus nicht kann oder nicht will. Das House of Lords sei nützlicher geworden, sagt der frühere Schatzkanzler Nigel Lawson (Lord Lawson of Blaby), und zwar wegen der „Kastrierung“ des House of Commons, das viele Gesetze gar nicht mehr richtig debattiere. Das Oberhaus hat auch deshalb mehr Zeit, weil seine Mitglieder keine Wahlkreispflege betreiben müssen.
Zur Abschaffung hat der Mut bisher nicht gereicht, die Briten sind eben ein besonders traditionsverhaftetes Volk. Ein gewähltes Oberhaus wäre auch problematisch, denn es wäre dann mächtiger. Und was macht man, wenn die Mehrheit eine andere wäre als im Unterhaus? Einen Vermittlungsausschuss einrichten?