US-Präsident in Berlin: Obama nimmt Abschied von Europa - nimmt Europa Abschied von Amerika?
Donald Trump ante portas: In ihrer Beziehung zu dem Neuen im Weißen Haus muss die Europäische Union auf zivile Weise konfliktfähig sein. Moralische Überheblichkeit wäre verkehrt. Ein Kommentar.
Plötzlich ist er wieder ganz nah, weckt Sehnsüchte wie damals an der Siegessäule, ruft Hoffnungen wach wie einst in Kairo mit seiner Rede an die islamische Welt. Aber diese Gefühle sind nicht mehr echt. Barack Obama ist ein Mann von gestern. Er nimmt Abschied. Seine Auftritte – zunächst in Athen, dann in Berlin –, seine Worte und Gesten werden umhüllt von einer Wolke aus Melancholie. Ach, wäre die Welt doch nur so geworden, wie er sie haben wollte! Aber vieles kam anders.
Dem Friedensnobelpreisträger gelang es nicht, Guantanamo zu schließen. Der arabische Frühling traf ihn unvorbereitet. Mit dem Rückzug amerikanischer Truppen aus dem Mittleren und Nahen Osten verschärften sich die Spannungen in der Region. Der islamistische Terror wütet weiter. Die NSA-Affäre demütigte Partner und entfremdete sie von Amerika.
Europa wird ihn dennoch vermissen, vielleicht sogar schmerzlich, trotz seiner Unzulänglichkeiten. Insbesondere der Wahlsieg Donald Trumps färbt die Brille, mit der auf Obama geblickt wird, rosarot. Im Vergleich zu seinem Nachfolger lassen sich Seufzer der Wehmut vernehmen. Nun wird, im scharfen Kontrast, vielen erst bewusst, was sie an Obama hatten. Man möchte ihn festhalten, die Uhren stoppen, die Zeit einfrieren. Wird das, was die transatlantische Agenda in den vergangenen Jahren beherrscht hat, ebenfalls von gestern sein? Die Nato, der Klimaschutz, der Freihandel, das Iran-Abkommen? Keiner weiß es.
Obama wird versuchen, Europa die Angst vor der neuen US-Regierung zu nehmen. Die schlauen Sprüche darüber kennt jeder: Das Amt zivilisiert den Amtsinhaber; nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird; die „checks and balances“ begrenzen die Macht des Präsidenten. Kann sein, kann nicht sein. Manchmal verblüfft die Geschwindigkeit, mit der einige versuchen, sich eine politische Revolution klein- und schönzureden.
Europa muss Trump seine Prioritäten nennen
Manchmal verblüfft aber auch die Geschwindigkeit, mit der die möglichen Folgen dieser Revolution antizipiert und in eigene Handlungsnotwendigkeiten übersetzt werden. Europa muss liefern, mehr tun, größere Verantwortung übernehmen, tönt es aus allen Ecken. Was ist das – vorauseilender Gehorsam? Will etwa Deutschland seinen Wehretat jetzt so panisch wie drastisch erhöhen, noch bevor Trump ins neue Amt eingeführt wurde? Kaum etwas ist schwerer zu ertragen als Unsicherheit. Statt des Nachts eine Weile orientierungslos im Wald zu stehen und auf den Sonnenaufgang zu warten, marschieren viele einfach los, egal wohin.
Dabei wären diese beiden Tugenden der erste und beste Beweis für Europas Reife: Geduld und Nervenstärke. Es gibt keinen Grund, zerknirscht zu sein. Es gibt keinen Grund, in Aktivismus zu verfallen. Es gibt keinen Grund, sich klein zu machen gegenüber Amerika. Aber es gibt auch keinen Grund, die eigenen Kräfte zu überschätzen und dem Partner, bitter enttäuscht, die Freundschaft aufzukündigen. Allerdings empfiehlt es sich, gegenüber Trump Prioritäten zu formulieren. Der neue US-Präsident muss zumindest wissen, was er womit anrichtet. Der transatlantische Handel zum Beispiel ist nicht gefährdet, ob mit oder ohne TTIP. Und ob mit oder ohne Klimaabkommen: Es war ohnehin fraglich, ob ein solches je vom Kongress ratifiziert würde.
Ganz anders, nämlich äußerst ernst, verhält es sich mit den Themen Nato und Atomabkommen. Die Nato ist die stärkste den Westen einende strategische Fernbeziehung. Der Zusammenhalt ihrer Mitglieder ist eine Bedingung für den globalen Frieden. Das Atomabkommen mit dem Iran wiederum wurde von allen fünf UN-Vetomächten plus Deutschland ausgehandelt. Will Trump die Verantwortung dafür übernehmen, dass die Mullahs in den Besitz von Nuklearwaffen gelangen? An seinen Taten sollt ihr ihn messen: Das gilt für Obama, und es gilt für Trump. In ihrer Beziehung zu dem Neuen im Weißen Haus muss die Europäische Union auf zivile Weise konfliktfähig sein. Moralische Überheblichkeit wäre verkehrt. Es geht nicht um Haltungsnoten sondern um gemeinsame Interessen.
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